Michka erfährt das schmerzlich, als sie nach und nach ihre Worte verliert. Sie findet die passenden Worte nicht mehr, vertauscht sie und wird dadurch orientierungslos. Sie wird in einem Seniorenheim untergebracht, in dem sie so ihre Probleme hat. Und noch etwas plagt sie in ihren Träumen: Sie muss unbedingt noch Nicole und Henri finden, bevor es zu Ende geht.
Aus Perspektive der jungen Marie, der ehemaligen Nachbarin Michkas, und des Logopäden Jérôme erzählt uns die Autorin diese zutiefst berührende Geschichte über diese herzliche und kluge Frau, über das alt werden, über die Dinge, auf die es wirklich ankommt und über die Macht der Worte.
Noch nie habe ich bei einem Buch schon auf der fünften Seite Tränen in den Augen gehabt. Delphine De Vigans Schreibstil ist einfach besonders - so zart, sanft, umarmend, poetisch. Jedes Wort ist präzise ausgewählt. Besonders hervorheben muss ich an dieser Stelle auch die Übersetzerin Doris Heinemann. Sie hat einen herausragenden Job gemacht, denn es war bestimmt nicht leicht, all die „Wortverwechsler“ Michkas aufgrund der Aphasie aus dem französischen ins Deutsche zu übertragen. Diese Wortspiele bringen trotz der Tiefe und der Melancholie der Handlung eine Leichtigkeit, die mit einem Lächeln zurücklässt.
Der Roman behandelt so Wichtiges auf so wenigen Seiten und bleibt dabei dennoch nie oberflächlich, sondern rührt zu Tränen und tröstet gleichzeitig. Ich werde sicherlich noch oft an diese liebenswerten Charaktere und ihre Geschichten denken.
Eine wärmste Empfehlung von Herzen - bitte lest dieses Buch! 🫶🏻
Delphine de Vigan schreibt einfach toll. Es geht um Michka, eine ältere Dame, die ihre Wörter verliert und nach einem Sturz ins Altersheim muss. Eine traurige, sehr berührende Geschichte, die zeigt, dass das Wichtigste doch die Verbindungen zu den Menschen sind.
Was macht es mit einem Menschen, wenn ihm die Sprache abhanden kommt, wenn die Worte erst verschwimmen und dann ganz verschwinden? Für Mischka ist es der Anfang vom Ende. Sie spürt, wie ihr Verstand sie im Stich lässt. Sie spürt Angst, pure, nicht greifbare Angst.
Doch zum Glück gibt es Marie und Jérôme, die sich der alten Dame annehmen. Die eine aus jahrelanger Verbundenheit, der andere aus neu entstandener Freundschaft.
Einerseits ist es so traurig und tragisch was mit Mischka passiert. Andererseits ist es fast zu schön, wie wunderbar Marie und Jérôme sie begleiten.
“Dankbarkeiten” ist ein Roman, der traurig macht, aber auch tröstet. Auf unter 200 Seiten gelingt es der Autorin eine wunderbare Geschichte zu entfalten.
Beim Lesen überkam mich außerdem immer wieder eine besondere Dankbarkeit für die Arbeit der Übersetzerin, die für mich diese Geschichte überhaupt erst zugänglich macht. So geht es mir in letzter Zeit übrigens immer häufiger, wenn ich übersetzte Bücher lese.
Einfühlsam berichtet Delphine de Vigan über das Älterwerden. Über Mischka, die ihre Worte verliert, die durch den Verlust der Sprache den Kontakt zu Außenwelt verliert, die nicht mehr laufen kann und plötzlich gefesselt ist an die kleine Welt des Pflegeheims. Ich als Leserin habe so sehr mit Mischka mitgelitten, man erkennt den Kampf um jedes Wort. Das ist oft sogar charmant, wenn sie Worte verwechselt und ersetzt aber oft auch traurig und verzweifelt. Marie und der Logopäde Jerome begleiten Mischka auf diesem Weg, unterstützen sie wo sie können. Und noch etwas Anderes beschäftigt Mischka, ein ungelöstes Problem aus ihrer Kindheit. Nach und nach gewährt Mischka Einblick in ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit.
Das Buch hat nur 176 Seiten, ich habe es an einem Sonntag durchgelesen. Und ich werde es mit Sicherheit noch mal lesen und auch weiterempfehlen. Das Buch ist ein kleiner Schatz. Es macht nachdenklich und betrübt, nimmt gefangen und lässt mich als Leser nicht los.
Ein schweres Thema, nicht leicht aber mit viel Charme und sehr mitfühlend und behutsam umgesetzt.
Respekt gebührt auch der Übersetzerin Doris Heinemann, die Mischkas deutsche Worte gegeben hat was sicherlich nicht einfach war.
Ein Buch, das dem Leser den Wert von Dankbarkeit lehrt
In Delphine de Vigans neustem Roman "Dankbarkeiten" begleiten wir die alte Dame Michka, die eines Tages in ein Altenheim ziehen muss, da sie alleine in ihrem Alltag nicht mehr klarkommt. Neben den langsam ansteigenden körperlichen Beschwerden leidet sie an Paraphasie, einer Krankheit, bei der sie stetig Wörter "verliert", vertauscht und verwechselt.
Wir folgen insgesamt drei Perspektiven. Zum einen der jungen Frau Marie, die Michka in ihrer Kindheit häufig bei sich aufgenommen hat, da sich Maries Mutter nicht immer ausreichend um sie kümmern konnte. Für Marie ist Michka so etwas wie eine Ersatzmutter. Zum anderen spielt der Logopäde Jeróme, der Michka jeden Dienstag und Donnerstag besucht, eine große Rolle. In ihren gemeinsamen Stunden hilft er nicht nur Michka mit der Krankheit und ihrem neuen Leben im Altenheim umzugehen, auch sie verändert sein Leben. Die dritte Perspektive bezieht sich auf Michkas Albträume, in denen sie zwar ihre Sprache wiederfindet, aber auch ganz klar ihre Ängste vor dem weiteren körperlichen Zerfall und dem Sterben zum Ausdruck bringt.
Ich liebe Delphine de Vigan und auch dieser Roman konnte mich wieder nachhaltig begeistern. Ihr Sprachstil in "Dankbarkeiten" ist wieder einmal so klar und intensiv, dass er mich unglaublich tief berühren und mitreißen konnte. Die Autorin schafft es bei mir stets mit wenigen gezielten Worten und Andeutungen ganze Welten und dazugehörige Emotionen in meinem Kopf entstehen zu lassen. Das Buch hat mich völlig für sich eingenommen und ich habe es quasi ohne Unterbrechung gelesen, während ich für die Außenwelt gar nicht mehr erreichbar war.
Gleichzeitig finde ich auch die gewählten Perspektiven und Figuren sehr passend und gut platziert. Die Themen Altern, Sterben, Selbstbestimmtheit, Familie, Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft und natürlich Dankbarkeit werden wie für de Vigan typisch sehr authentisch, dadurch zugleich schmerzhaft und wunderschön dargestellt. Neben der erwarteten Botschaft "Sprich die Dinge aus, bevor es zu spät ist" ist in diesem Roman noch so viel mehr zu finden, wofür ich Delphine de Vigan ebenfalls unglaublich dankbar bin. In meinen Augen erneut ein Meisterwerk einer meiner Lieblingsautorinnen.
(Februar 2020)
"Dankbarkeiten" ist ein feinsinniger kleiner Roman über den Verlust von Sprache und darüber, was dieser Umstand mit uns macht. Eine Novelle über das Älterwerden, den unaufhaltsamen Verfall und darüber, wie wir ihm begegnen können. Fern von Fatalismus, aber dennoch mit einer großen Portion Tristesse angesichts des unvermeidlichen Wegs allen Irdischens erzählt Delphine de Vigan vom Altsein Michkas und ihren letzten Lebenswochen in einem Pariser Seniorenheim.
Die Tragik: Michka ist kinderlos und ohne Verwandte. Sie muss sich im Alter auf die Fürsorge derer verlassen, die dies freiwillig machen, so wie Marie, eine der beiden Ich-Erzähler des Romans. Oder eben auf das ungastliche Seniorenheim mit seiner nüchternen, distanzierten Direktorin. Denn alleine wohnen kann und will sie nicht mehr. Außerdem leidet sie an Sprachverlust, sie verliert die Wörter, ersetzt sie durch die, die ihr gerade in den Sinn kommen. Ironie des Schicksals, war sie früher doch Korrektorin, hat Texte verbessert, mit Wörtern gearbeitet.
Wenn Michka um die Worte ringt, gleichsam um sie kämpft und trotz allen Aufbäumens doch wieder in Kauderwelsch verfällt, dann ist das rührend, es geht ans Herz des Lesers.
Jérôme, der andere Ich-Erzähler, ist Michkas Logopäde. Er macht mit ihr und anderen alten Menschen im Seniorenheim Sprachübungen. Die Wortlosigkeit, die Alter, Alzheimer und Demenz mit sich bringen, ist sein täglich Brot und dennoch lässt sie ihn nicht kalt. Die mitunter bewegendsten Sätze des Buches sind seine Gedanken über die Tragik des Sprachverlusts.
Der Kurzroman heißt “Dankbarkeiten”, denn es geht auch um das Grundbedürfnis des Menschen, “Danke” zu sagen. Bevor Michka gehen kann, möchte sie noch Danke sagen und zwar jenen Menschen, die sie nach der Deportation ihrer Eltern während des Zweiten Weltkriegs gerettet haben - aus reinem Altruismus heraus. Der Logopäde Jérôme hilft ihr dabei.
Es ist mein erstes Buch von Delphine de Vigan, eine wirkliche Neuentdeckung für mich! Ein wirklich berührender, in sich geschlossener Kurzroman, bei dem kein Wort überflüssig ist.
Delphine de Vigan kann einfach schreiben.
Diese Geschichte hat mich sehr berührt. Es geht ums älter werden, das Loslassen, den Verlust und um reine Dankbarkeiten …. gegenüber verschiedenen Personen. Michk steht am Ende ihres Lebens. Die Geschichte wird aus …. naja…. 3 Perspektiven erzählt. Aus Marie’s Sicht…. eine Frau, um die sich Michka oft gekümmert hat, als Marie noch klein war. Michka war eine Nachbarin, vor deren Tür die kleine Marie irgendwann stand. Außerdem erzählt der Logopäde Jerome, wie er Marie kennenlernt und sie begleitet.
Er lernt Michk in einem Seniorenheim kennen, in dem sie lebt. Er macht Sprachübungen mit ihr, da sie an altersbedingter Aphasie leidet.
Und dann sind da noch Michks Traumsequenzen. Die meisten davon, sind kleine Alpträume, die ihre Ängste wieder spiegeln. Jedoch bekommen wir hier auch einen kleinen Einblick in ihre Erinnerungen und können erahnen, wer sie war und was sie durchlebt hat. Ich mochte alle Protagonist:innen sehr. Mich hat es berührt, wie geduldig und ruhig Jerome und Marie für Michk da waren. Es hallt nach. Da man sich automatisch über das eigene Älter werden und unser Pflegesystem Gedanken macht. In mir hat es sehr unterschiedliche Gefühle hervorgerufen. Ein dünnes Buch, ruhig erzählt, dessen Hauptcharakter leider immer mehr die Worte fehlen, jedoch dabei so viel Aussagekraft hat. Ganz toll♥️
Ich habe nichts anderes erwartet: Delphine de Vigan besticht auch in ihrem neuen Roman "Dankbarkeiten" mit einer Mischung aus Tragik, Humor und ganz viel Gefühl. Jedes Wort dieses Buches ist wohl bedacht und geht ans Herz. Der Titel sagt bereits, was dieses Buch aussagen will: Wir alle sollten mehr Dankbarkeit zeigen. Nicht nur unseren Liebsten gegenüber, sondern auch dafür, dass wir gesund sind. Einfach für alles im Leben. de Vigan vermittelt diese Botschaft meisterhaft und ohne den Finger zu erheben. Ihre Worte erzählen die gewünschte Wirkung. Ich habe erstmal Danke gesagt. Außerdem werden Themen wie Nationalsozialismus, Vernachlässigung, Depression und seelischer Mißhandlung auch gut behandelt.
Dankbarkeiten ist voller Charme, Traurigkeit und Tiefe und ist damit eines meiner Jahreshighlights geworden. Eines meiner Lieblingszitate möchte ich hier kurz vorstellen, weil ich in diesem Moment so Gänsehaut hatte:
"Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen."
Michka ist eine starke Protagonistin, mit der man mitleidet und ihr einfach nur das beste wünscht. Ihre Pfleger und ihre Familie sind ebenfalls sehr berührend, sie kämpfen alle mit ganz unterschiedlichen Problemen und geben trotzdem ihr bestes. Das fand ich sehr bewundernswert.
In ihrem neuesten Roman widmet sich Delphine de Vigan einem wichtigen und in der Gesellschaft selten betrachteten Thema – dem Altern. Sie erzählt die Geschichte von Michka, eine erfolgreiche Redakteurin mit bewegter Lebensgeschichte. Sie spürt zunehmend den Verlust der Sprache und damit das Zusammenbrechen ihrer Welt. Dabei ist es ihr wichtig, bei dem Ehepaar, welches einst ihr Leben rettete, sich zu bedanken. Diesen Wunsch teilt sie Marie und Jérôme mit.
Eindringlich aber würdevoll zeigt de Vigan die Macht der Sprache auf und welchen Einfluss sie auf das Leben hat. Der Titel Dankbarkeiten rahmt den Roman, da die drei Protagonisten jeder auf seine eigene Weise dankbar sind und dieses auch zeigen. Die einfühlsame und durch ihre Unschuldigkeit grausame Sprache Vigans vermittelt das Zusammenbrechen der Welt Michkas, ohne auf sie herabzusehen. Ein großartiger Roman, welcher die vielfältigen Nuancen zwischenmenschlicher Kommunikation heraushebt!
Michka, die in ein Seniorenheim kommt und sich auf Spurensuche zu ihrer Vergangenheit begibt, war bis vor kurzem eine selbständige, ältere Dame. Hin und her gerissen zwischen alten Erinnerungen und neuen Begebenheiten, möchte sie das Paar wiederfinden, welches ihr in ihrer Jugend das Leben gerettet hat. Ob ihr das gelingt und welche Hilfe sie dabei erhält, erzählt die berührende Geschichte dieses Buches.
Michka hat stets ein unabhängiges Leben geführt und muss eines Tages feststellen, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung leben kann. Sie glaubt ständig, dass sie wichtige Dinge verloren hat, verspürt neue Ängste und ist immer wieder von Alpträumen geplagt. Was sie tatsächlich immer öfters verliert, sind Wörter. Wörter, an die sie sich nicht mehr erinnern kann, die ihr manchmal doch wieder einfallen, und die sie oft durch ähnliche klingende ersetzt. Die junge Marie, die in jungen Jahren Hilfe von Michka erfahren hat, kümmert sich liebevoll um die alte Dame und beschließt mit ihr gemeinsam, einen Platz im Seniorenheim zu finden. Michka findet sich nur schwer in die neuen Begebenheiten ein und erkennt in hellen Geistesmomenten, dass ihre Selbständigkeit dahin ist. Ob dieser für sie neuen Situation gibt es etwas, dass Michka noch mehr beschäftigt. Bisher hatte sie vergeblich nach dem Ehepaar gesucht, dem sie ihr Leben zu verdanken hat. Immer wieder hatten sie und Marie Anzeigen aufgegeben, um das Ehepaar zu finden – leider bisher erfolglos. Als dritter Protagonist tritt dann Jerome in das Leben von Michka, der im Seniorenheim als Ergotherapeut tätig ist und mit Michka viele Gespräche führt. In diesen erfährt er auch vom Schicksal, welches Michka in jungen Jahren erfahren hat. Er hört, dass Michka und Marie eine erneute Anzeige aufgegeben haben, damit Michka dem Ehepaar endlich ihre Dankbarkeit übermitteln kann. Wie wird es für Michka, Marie und Jerome ausgehen?
Das Buch erhält von mir eine klare Kauf- und Leseempfehlung! Eine spannende Lektüre zum Thema Dankbarkeit, Liebe und Loyalität, mit dem sich manchmal viel zu wenig beschäftigt wird, da viele Dinge leider selbstverständlich geworden sind, trotzdem sie es - meiner Meinung nach - nicht sind!
Vor etwa einem halben Jahr habe ich zum ersten Mal von Delphine de Vigan gehört und das auch nur durch Zufall, als ich ein Rezensionsexemplar eines anderen Autors beim Dumont Verlag anfragen wollte. Damals hat mir Torsten, der Social Media Beauftragte, nämlich Loyalitäten von de Vigan als Alternative zu dem gewünschten Titel angeboten und ich habe zugesagt.
Zum Glück, denn erst durch ihn wurde ich aufmerksam auf dieses französische Ausnahmetalent der Literatur und nun bin ich süchtig nach ihren Worten und ein ganz großer Fan!
Ihre Romane haben mein Lesen verändert, meine Wahrnehmung für alltägliche Besonderheiten geschärft und gehören seitdem zu den wichtigsten und wertvollsten Büchern in meinem Regal.
Und nun kam Dankbarkeiten heraus, welches meine Gratitudes an sie nochmal steigern sollte.
Alt werden heißt verlieren lernen.
Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen. So habe ich es vor Augen.
(Seite 123)
Der betagten Madame Seld, oder Michka, wie sie lieber genannt wird, gehen die Wörter verloren, gerade ihr, die doch die Worte so ernst nimmt. Denn dort, wo sie jetzt lebt, wohnen nicht Senioren, sondern Alte – schließlich sagt man ja auch die Jungen und nicht die Junioren. Ihr, die ein Leben lang für Wörter lebte und Korrektorin für ein großes Magazin war. Doch noch sucht sie nach ihnen.
Dement ist sie nicht, aber sie leidet unter fortschreitender Aphasie und weil Mischka dadurch nicht nur ihr Sprachvermögen Stück für Stück verliert, sondern auch einen Teil ihrer Orientierung, lebt sie jetzt hier, im Altenheim.
Zwei Besucher sind ihr dort geblieben: Marie, die schon in iher Wohnung für sie sorgte und Jérôme, der als Logopäde zweimal pro Woche kommt.
Und diese drei Menschen verbindet mehr.
Mischka war für Marie wie eine Mutter, weil ihre eigene kaum da war und ihr dadurch das Nest fehlte, die Sicherheit und ein Zuhause. Von Jérôme erfährt Michka in ihrer unverblümten Art, dass dieser den Kontakt zu seinem Vater längst resigniert und tief verletzt abgebrochen hat.
Und auch die alte Dame selbst verlor ihre Eltern, die sie damals im tobenden Krieg als Jüdin verlassen musste, um von einer neuen Familie aufgenommen zu werden, bis ihre Tante sie wieder geholt hat und dadurch der Kontakt zu dem Ehepaar abriss, das sie vor dem sicheren Tod gerettet hat.
Diesen beiden möchte sie jedoch als letzten Wunsch ihre Dankbarkeit übermitteln, um denen, die ihr einst das Leben gerettet haben zu zeigen, dass sie sie nie vergessen hat.
“Was haben Sie verloren, Madame Seld?”
“Man kann es nicht sehen. Aber ich spüre es. Es zerreißt sich…. Es entzieht sich.”
(Seite 15)
Aus dieser Dreierkonstellation gestaltet Delphine de Vigan ihren Erzählkosmos, in dessen Zentrum der Fixstern namens Dankbarkeiten hell leuchtet, natürlich neben der eigentlichen Hauptakteurin Michka, die für mich das Buch zu einem Juwel gemacht hat. Denn die Autorin schreibt in ihrer zunehmenden Sprachlosigkeit hinein, als würde sie selbst unter Aphasie leiden.
Es ist beklemmend und traurig zugleich zu lesen, wie viele Worte sich schleichend verabschieden, aber es ist auch ein faszinierender Kunstgriff, der uns verstehen lässt wie Mischka fühlt. Man weiß, was sie eigentlich sagen will, spürt zeitgleich aber auch das Loch, das jedes verlorene Wort in ihr noch vergrößert und trotz der unfreiwilligen Komik mancher Sätze tiefe Verzweiflung in uns und in ihr aufkommen lässt – weil Mischka nicht einfach verstummt, sondern bis zuletzt um das Leben anderer bemüht bleibt.
Doch Dankbarkeiten hat mich nicht nur durch die Kraft der Sprache tief berührt, sondern auch dadurch, dass die Autorin vieles andeutet und es dann dem Leser selbst überlässt, was er daraus macht. Es sind die Momente, die einem durch Krankheit, das Sterben und den Tod genommen werden, Momente der Versöhnung. Momente und Versäumnisse, die den inneren Frieden unmöglich machen.
Wohin gehen die Wörter
Jede, die Widerstand leisten,
Die sich zurücknehmen,
Jene, die urteilen
Und vergiften?
Wohin gehen die Wörter,
Jene, die uns aufbauen und zerstören,
Jene, die uns retten,
Wenn alles flieht?
(La Grande Sophie)
Wann beispielsweise hast du dich bei jemandem bedankt, der mehr für dich getan hat, als es zu erwarten gewesen wäre?
Wie hast du dich bedankt und gibt es noch Dankbarkeiten, die noch nicht übermittelt wurden?
Diese Fragen blieben mir am Ende dieses unglaublich bewegenden Buches.
Genutzte gemeinsame Zeiten mit uns nahestehenden Menschen mag eine der wesentlichen Punkte sein, um Verluste zu vermeiden. In Wahrheit jedoch geht es um die Qualität dieser Zeit, bevor alles endet.
Ich könnte noch so viel mehr schreiben, euch noch ausschweifender erzählen, warum ich dieser Autorin nur einmal in meinem Leben begegnen möchte um ihr für die Gefühle, die sie in mir geweckt hat, zu danken, aber ich halte mich kurz und schließe mit den Worten:
Lest Dankbarkeiten , denn dieses Buch ist nicht beliebig. Es ist in jeder Nuance besonders und bleibt haften.
Mischka zu vergessen, wird mir definitiv nicht gelingen
Inhalt
Michka ist eine ältere Dame und wohnt alleine. Sie war immer unabhängig und hat früher als Lektorin gearbeitet. Doch langsam verliert sie ihre Unabhängigkeit, sie wird vergesslich, gebrechlich und verliert die Worte. Mitten im Satz verliert sie die passenden Worte, alleine in ihren Träumen kann sie noch „richtig“ sprechen.
Meine Meinung
„Dankbarkeiten“ ist ein Roman, der sich mit dem Thema Alter beschäftigt. Marie, eine junge Frau aus der Nachbarschaft, auf die Michka früher aufgepasst hat, kümmert sich nun um sie. Doch nach einem Sturz muss Michka in ein Altersheim ziehen und ihre Welt wird noch kleiner. Marie und Jérôme, der junge Logopäde, der ihr helfen soll die Kommunikation zu erhalten, sind nun Michkas einzige Ankerpunkte. Die einst so stolze und weltoffene Frau wird zunehmens ängstlicher und verzweifelter.
Ihr einziger Wunsch ist es, das Ehepaar, welches ihr als Kind das Leben gerettet hat, zu finden und sich bei Ihnen endlich bedanken zu können.
Der Roman wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und wechselt zwischen Maries und Jérômes Perspektive sowie und der „Traumperspektive“ von Michka.
Mit nur 165 Seiten ist es ein schmales Buch, bei dem aber jedes Wort und jeder Satz präzise und perfekt sind. Es braucht nicht mehr Seiten, um von dem langsamen und unaufhaltsamen Abschied zu erzählen. Es ist die Dankbarkeit die am Ende bleibt.
Fazit
Ein sehr emotionales und berührendes Buch, das mich oft zum Weinen, manchmal aber auch zum Lächeln gebracht hat. Auch „Dankbarkeiten“ ist wie schon „Loyalitäten“ ein absolutes Herzensbuch und jetzt schon eines meiner Lesehighlights 2020.
Das Buch ist, wie ich finde, wunderbar übersetzt von Doris Heinemann. Es passt wirklich jedes Wort. Das war in Anbetracht der Aphasie von Michka bestimmt nicht leicht den Text und die Wortausetzer vom Französischen ins Deutsche zu transportieren.
❤️❤️❤️❤️❤️ Leseherzen und Danke auch an den Dumont Verlag, der diesen wunderbaren Roman zu uns nach Deutschland gebracht hat.
„Man müsste vorgewarnt werden. Wenn die Leute bald sterben.“
„Dankbarkeiten“ von Delphine de Vigan hat mir unheimlich viel gegeben. Ich habe jede Seite geliebt, genossen und inhaliert.
Ich habe einige Tränchen verdrücken müssen. Es war unfassbar. Grandios, gewaltig, sprachlich. Modern, aktuell.
Für mich zählt dieses Buch definitiv zu den Highlights bisher in diesem Jahr.
Ich kann das Buch wirklich allen empfehlen.
Aus dem französischen übersetzt von Doris Heinemann.