3. Sept. 2024
Bewertung:4

Ich reagier immer etwas allergisch bei dem Versuch mir Determinismus unterzujubeln. Zu Beginn wurd ich auch immer nervöser bei den Erzählungen aus Schulzeit und der Familie. Diese schüchterne Passivität der Icherzählerin. Schwer zu ertragen. Hier haben wir allerdings den Fall einer Familiengeschichte und Erlebnissen, die die Autorin für mich weitestgehend absolut plausibel aufbereitet, die mich die Verhaltensweisen emphatisch nachfühlen lassen. Sprachlich finde ich das Buch herausragend gut. Dieser nüchterne Erzählton ist toll. Es gab für mich den ein oder anderen Moment im späteren Teenager und jungen Erwachsenenalter, den ich nicht ganz glaubwürdig fand. Auch wenn einem grundlegende Bildung fehlt und man den Begriff Kommilitone nicht kennt, hat man ja dennoch Kontakt zu Menschen von denen man sich etwas abgucken kann. Es geht seit der Kindheit genug Zeit ins Land, die Naivität und Unwissenheit abzulegen, zumal sie eine Internetgeneration darstellt. Man muss schon mit heftigen Scheuklappen durchs Leben laufen, um auf der Uni immer noch in dieser naiven, leicht larmoyanten Art Banalitäten nicht zu wissen, die schnell nachgeschlagen werden können. Immerhin hatte sie 2 Freunde, die sie seit der Schulzeit begleiten. Sie lebte nie völlig isoliert. Die Passivität durchbricht sie an mehreren Punkten ihres Lebens, weshalb Passagen dieser Art : „Ich versteh das Leben da draußen nicht und belasse es auch dabei“, für mich nicht logisch sind und den deterministischen Ansatz zu stark betonen. Ich spreche hier allerdings von wenigen Ausnahmemomenten, die den Lesegenuss nur marginal eingetrübt haben.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
14. März 2024
Bewertung:5

Sehr eindringliche, berührende Geschichte über das Erwachsenwerden, Bildungsungleichheit, Familie und Hoffnung. Leise und sehr intelligent berichtet, dazu bildhafte Erzählungen und schmerzhaft offene, aber gleichzeitig abgeschlossene Darstellungen.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
25. Feb. 2024
Bewertung:4.5

die protagonistin wächst in frankfurt-höchst in unmittelbarer nähe zum industriepark auf. ihr vater ist ein messi, die beziehungen in der familie eher schwierig und gut in der schule wird überbewertet und daher auch zu hause nicht unterstützt.

und so handelt streulicht von diversen problemen der protagonistin.
vom nicht gesehen und gehört werden. vom vergleich mit anderen. von selbstfindung. vom wunsch nach bildung und dem tatsächlichen schulsystem, dessen lehrkräfte inkompetent sind. und von fehlendem verständnis von leistungen durch freund*innen und familie.

„Ich will dir jetzt nicht den Erfolg schlecht-reden, aber das muss man bedenken. Das Niveau ist niedriger, damit auch andere es schaffen können. Es sind ja viele dort, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, weißt du, was ich mein? Ich sag's nur so als Vorwarnung.“ S.188

die geschichte ist relativ ruhig erzählt. es werden keine zeitangaben gemacht oder genaue orte erwähnt. und genau diese kombination regt die eigenen bilder im kopf an & führen zu einer aktiven auseinandersetzung mit dem geschriebenen.

ich habe einen moment gebraucht, bis ich in die geschichte gefunden habe. danach konnte ich es nicht mehr aus der hand legen. 🤍

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
1. Jan. 2024
Bewertung:4

ich will die wohnung der erzaehlerin ausmisten, ich will die eltern schuetteln, ich will noch mit ihren freund*innen reden - die erzaehlerin, dessen name bis zum ende unbekannt blieb, trug mich schleppend durch ihre jugend. manchmal war ich verwirrt, in welchem zeitraum die erinnerung grade schwelgt, jedoch ergaben die einzelnen erinnerungsstuecke am ende ein bild, woraus die*der leser*in sich ihre lebensrealitaet ziehen und aufbauen kann.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
31. Okt. 2023
Bewertung:4

Eine sehr eindringliche Schilderung einer Kindheit und Jugend, die mich verstehen lässt, mit welchen verdeckten rassistischen Unwägbarkeiten junge Menschen konfrontiert sein können. Für mich waren viele der geschilderten Begebenheiten fremd, weil ich so nicht aufgewachsen bin, aber ich durfte verstehen. Ein toller Roman, in eindringlicher Sprache.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
15. Okt. 2023
Bewertung:4.5

Dieses Buch besticht durch seine Sprache die reich an Metaphern und Umschreibungen ist. Ein großartiger, aufwühlender, Roman. Völlig zu recht Deutschen Buchpreis nominiert.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
17. Aug. 2023
Bewertung:3

Kindheit und Jugend in Frankfurt am Rande des Industriegebietes, 90er Jahre. Bildungswege, subtile Ausgrenzung, kleinstädtisches Ambiente, Familien“Traditionen“ & -Gefängnisse. Beklemmend wahr, bildgewaltig.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
31. Juli 2023
Bewertung:2

Ich habe mir von dem Buch leider was anderes versprochen. Es war für mich leider sehr langatmig, und deshalb an vielen Stellen auch langweilig. Jedoch wird ein sehr wichtiges Thema angesprochen, nur hätte ich mir eine andere Umsetzung gewünscht.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
14. Juli 2023
Bewertung:4

Ich lese dieses Buch im Rahmen meiner Masterarbeit und bin wirklich mitgenommen vom Erzählten. Die unbeschönigte Beschreibung der sozialen Ungerechtigkeit und der fehlenden Zugehörigkeit treffen einen zutiefst.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
9. Mai 2023
Bewertung:5

Deniz Ohde hat mit ihrem Debütroman den aspekte Literaturpreis und den Bloggerpreis "Das Debüt" 2020 erhalten und stand außerdem 2020 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. "Streulicht" spielt in einer Arbeitersiedlung am Rande eines großen Industrieparks nahe der "Stadt", die hier nicht weiter benannt wird. Die namenlose Ich-Erzählerin wächst hier in sehr bescheidenen Verhältnissen auf, der Vater einfacher Arbeiter, der vom Leben wenig erwartet, nutzlose Dinge hortet und in Wutanfällen regelmäßig die Möbel angeht, die Mutter eine türkische Frau, die putzen geht und sich aufopferungsvoll um die kleine Familie sowie den Schwiegervater kümmert. Die Protagonistin hält im Erwachsenenalter bei einem Besuch in der Heimat Rückschau über das Aufwachsen, die unbeschwerten und die belastenden Momente ihrer Kindheit und Jugend und fängt dabei mit unglaublich genauen Beobachtungen die Lebensrealität eines Mädchens aus einer bildungsfernen Familie ein. Klassismus spielt hier eine große Rolle, aber auch subtiler Rassismus, Armut und psychische Krankheiten. Mich hat vor allem beeindruckt, wie treffsicher Deniz Ohde ihre Figuren zeichnet und sie in ihren Eigenheiten und Motiven unglaublich nahbar macht. Ich saß in diesem Klassenzimmer und habe den Lehrer verflucht, sah auf den Industriepark mit seinen hohen Schloten, ich spürte die Resignation der Protagonistin schwer auf mir lasten. Ich ging mit ihr mühevolle Schritte mit dem Gefühl, falsch zu sein und selbst Schuld zu haben, durchs Raster gefallen zu sein in einem Land, das gleiche Bildungschancen proklamiert. Es zerreißt einem das Herz und nur manchmal, ganz zart, leuchtet ein Hoffnungsschimmer auf. "Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren, geboren aus dem Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einem Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt." (S. 224)

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
6. Apr. 2023
Eine mitreißend ehrliche Geschichte über eine namenlose Protagonistin, über das Aufwachsen mit einem angsterfüllten Vater (der Auseinandersetzungen meidet und nicht darüber redet), über das Erleben von Rassismuserfahrungen (ohne dass sie wortwörtlich so benannt würden), über falsche Bildungsversprechen einer Gesellschaft (die ohnehin schon durch die eigene habituelle Prägung vorbestimmt sind) und das Erwachsenwerden ohne wirklichen Traum vom Leben. Ein sehr ergreifender Roman!
Bewertung:4.5

Eine mitreißend ehrliche Geschichte über eine namenlose Protagonistin, über das Aufwachsen mit einem angsterfüllten Vater (der Auseinandersetzungen meidet und nicht darüber redet), über das Erleben von Rassismuserfahrungen (ohne dass sie wortwörtlich so benannt würden), über falsche Bildungsversprechen einer Gesellschaft (die ohnehin schon durch die eigene habituelle Prägung vorbestimmt sind) und das Erwachsenwerden ohne wirklichen Traum vom Leben. Ein sehr ergreifender Roman!

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
24. Feb. 2023
Bewertung:3

Von der Thematik her fand ich Streulicht wirklich interessant und so grundsätzlich hat es mir auch wirklich gefallen. Aber auch wenn die detaillierten Beschreibungen super gute Einblicke in das (Gefühls)leben der Protagonistin geben habe ich sie manchmal als etwas zu langatmig empfunden. Im Endeffekt aber ein interessanter Roman über soziale Ungleichheit, gerade im Bildungswesen aus dem man viel mitnehmen kann und eventuell auch neue Einblicke bekommt.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
7. Feb. 2023
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Bewertung:5

In diesem Debütroman kommt viel zusammen: eine (trostlose) Industrieatmosphäre (erinnert unschwer an Frankfurt-Höchstadt), das damit in engem Zusammenhang stehende Arbeitermilieu sowie das deutsch-türkische Elternhaus der Protagonistin. Die minutiös nachgezeichnete, das Umfeld auf das Genaueste sezierende Geschichte von der Bildungsausgestoßenen zur Bildungsaufsteigerin weist auf eine doppelte Problematik von sozialer Klasse und Migration (in diesem Fall der Mutter) hin. Die Erzählerin scheitert allzu oft an kulturellen Codes im Kleinen (Elternabende, die Mutter der Freundin) und im Großen (angedeuteter Rassismus, der Zustand der elterlichen Wohnung) und kämpft sich dennoch bis zur Universität durch. „Streulicht“ ist ein horizonterweiterndes Buch, das eine authentische Erzählweise anbietet und gesellschaftliche Lücken schonungslos thematisiert, ohne in Pathos abzugleiten. Eine eindringliche und sprachlich überzeugende Lektüre. Unbedingte Leseempfehlung!!

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
4. Jan. 2023
Bewertung:5

Nachdem ich bei bei einer Freundin “Streulicht” gesehen habe und auch, wie begeistert sie davon ist, habe ich das als Hörbuch angehört. Deniz Ohde hat ein unglaubliches Buch geschrieben. An alle, die Mikroagressionen, Othering, Diskriminierung und Rassismus besser verstehen möchten: Hört/Lest dieses Buch! [CN: Gaslighting, Häussliche Gewalt, Kindesmisshandlung, Mikroaggressionen, Othering, Rassismus] Am Anfang des Buches hat es mich nicht gepackt, aber ich denke auch nicht, dass das die Intention sein sollte. Die Erzählweise war so ruhig, fast empfand ich sie schon als langweilig. Es wurde viel beschrieben, aber es passierte nichts? Ich war verwirrt. Doch plötzlich gab es hin und wieder Seitenhiebe. Es wurde immer mehr. Es wurde immer auffälliger. Irgendwann waren es keine Mikroaggressionen mehr. Ich hätte die Protagonistin am liebsten geschüttelt und ihr ins Gesicht geschrien, dass das so nicht ok ist, was die anderen das mit ihr machen. Nimm das bitte nicht so hin! Ich hätte sie am liebsten vor allen anderen beschützt. Die Eltern angeschnauzt, die Lehrer*innen, die Freundin Sophie. Einfach alle. Wie konntet ihr nur? Wie konntet ihr nur so mit ihr umgehen? Immer wieder erlebt die Protagonistin Mikroaggressionen. Sie erzählt, wie das für sie ist, “anders” zu sein. Das Gefühl des nicht-zugehörig Seins. Nur weil jemand in Deutschland geboren wurde, bedeutet es nicht, dass wir vor Rassismus geschützt sind. Nicht alle nehmen uns als “Deutsch” wahr. Mir hat es regelrecht wehgetan zuzuhören. Ich konnte mich mit vielen Dingen identifizieren. Gleichzeitig denke ich, danke Deniz Ohde. Danke, dass du all diese Mikroaggressionen sichtbarer machst. Danke, dass du es möglich machst, dass mehr Menschen das lesen und hoffentlich nachempfinden können. Ich hoffe, dass das ganz viele Menschen lesen und lernen all diese “Seitenhiebe” zu erkennen. Ich hoffe, dass Nichtbetroffene auch den Mut finden einzuschreiten, wenn sie das mal miterleben sollten.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
13. Nov. 2022
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Bewertung:4

Mal wieder ein Buch, das zu lange auf meinem SuB versauern musste. Ich fand es schon interessant, als es für den Deutschen Buchpreis nominiert war und nochmal, als ich Deniz Ohde bei einem online Vortrag erleben durfte - eine rundum sympathische und ermutigende Person! • Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber am Anfang tat ich mir mit Stil und Geschichte schwer. Wo war der Plot? Erst mit der Zeit verstand ich, dass das (Bildungs-) Leben der Protagonistin der Plot war und dann ging es besser. Wie unser Bildungssystem völlig an ihr vorbei funktioniert, wie sie nicht gesehen wird, wie sie sich anders sieht als die anderen im Ort, ist so normal wie erschreckend. Das in Literatur zu gießen, ungemein wichtig. Stilistisch fand ich die Sprache letztlich gut, sie passte zur Protagonistin. Die immer mal gar nicht handelt und dann doch wieder sehr viel Willen hat, auch etwas, mit dem ich mit langsam anfreunden konnte. • Ich war insgesamt nicht so begeistert wie ich gedacht hatte, trotzdem war die Lektüre gut und das Thema wichtig. Daher gibt es durchaus eine Empfehlung von mir.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
30. Okt. 2022
Bewertung:4

• STREULICHTER • Ein ernster und bedrückender Roman, der aufzeigt, wie ein junges Mädchen ihre Identität sucht und an die Grenzen der Bildungsgerechtigkeit stößt. Die namenslose Ich-Erzählern kehrt nach einer gewissen Zeit zurück in ihre Heimat: dem Ort ihrer Kindheit. Rückblickend erzählt sie ihre Geschichte, die sich zwichen alten Industriegebäuden, verlassenen Geländen und dem Schulhof abspielte. Aufgewachsen ist sie mit einem blinden Großvater, einem zum alkoholneigendem Vater und einer türkischen Mutter. Deniz Ohde hat mich mit ihrem Roman "Streulicht" wirklich tief berührt. Vor allem die Hoffnung der Mutter nach einem besseren Leben, die Ausweglosigkeit und das Scheitern der Schule haben mich wirklich getroffen. Das Mädchen erfährt von frühester Kindheit bereitsAblehnung. Zuhause versteckt sie sich vor den Wutausbrüchen ihres Vaters, in der Schule versucht sie sich möglichst unauffällig zu verhalten und bei ihren Freunden fühlt sich sich oft Fehl am Platz. Besonders fassunglos finde ich, dass die Erwachsenen in ihrem Umfeld kaum an sie glauben und ihr keinen Mut zusprechen. Die Erzählerin ist zu tief versunsichert und begegnet jeder Situation mit äußerster Vorsicht. Besonders der Umgang der Schule hat mich ratlos gemacht: sie erkennen nicht ihr Potential, sie fördern sie nicht, sie bieten keinerlei Unterstützungsmöglichkeiten. Stattdessen geben sie ihr das Gefühl klein und unbegabt zu sein. Erst an der Abendschule erfährt die Ich-Erzählerin Bestätigung und den Glauben daran, dass sie so viel mehr kann. Ich bin selber Lehrerin und mir hat der Roman nochmal mit voller Wucht gezeigt, dass die Beziehung zu den Schüler*innen so wichtig ist: kein Lob ist zu viel, keine Ermutigung zu wenig und wichtig und das man an sie glaubt.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
23. Sept. 2022
Bewertung:5

Deniz Ohde beschreibt eine Arbeiterkindheit mit Migrationshintergrund mütterlicherseits. Flüchtig von außen betrachtet, ist es die Geschichte einer rundum geglückten Integration, gar eines beachtlichen Bildungsaufstiegs: die namenlose Protagonistin macht im Zweiten Bildungsweg ihr Abitur, lässt die verqualmte Arbeiterwohnung hinter sich, streift sich den Schmutz von den Schuhen und beginnt ein neues Leben… Blickt man jedoch durch ihre Augen, dann bröckelt die schöne Fassade._ _ “Wenn einem etwas angetan wird, dann ist er nicht selbst schuld daran; wenn einer in einem System versagt, das von vorneherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm. Für wen ist das Netz gebaut. Für wen ist es ein Fangnetz, und für wen ist der Abgrund darunter bestimmt.”_ (ZITAT)_ _ Die Geschichte beginnt damit, dass die Erzählerin anlässlich der Hochzeit ihrer Kindheitsfreunde zurückkehrt an den Ort ihres Elternhauses. Sobald sie den Fuß auf vertrauten Boden setzt und die vertraute Luft atmet, sickern die Erinnerungen aus alten Wunden wie Eiter:_ _ Erinnerungen an den jähzornigen Alkoholikervater, der vierzig Jahre lang vierzig Stunden die Woche in der Fabrik malochte, bis ihm alles ‘außerhalb’ feindlich erschien, bis Besucher nur noch Fremde waren, die es zu vertreiben galt. An den blinden Großvater, der immer noch mit einem Bein im Weltkrieg stand. An die türkische Mutter, die irgendwann ging, weil sie es in dieser Ehe nicht mehr aushielt, und die Tochter einfach zurückließ – aber trotzdem noch dreimal die Woche zum Putzen und Aufräumen vorbeikam. Und Erinnerungen daran, wie das mit dem Bildungsaufstieg wirklich war: der Weg des intelligenten, wissbegierigen Mädchens durch das deutsche Bildungssystem war gepflastert mit gebrochenen Bildungsversprechen._ _ Was ich vor mir sehe, wenn ich an diesen Roman denke:_ _ Das fremdartige Panorama massiver Industrieanlagen, die im Dunkeln blinken wie Raumschiffkulissen. Eine Stadtlandschaft, deren Linien im diffusen Streulicht dieser Anlagen aufgelöst werden._ _ “Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte.”_ (ZITAT)_ _ Das ist für mich das perfekte Bild für die Andersmachung, die über der Protagonistin hängt wie ein Miasma, dem sie nicht entkommen kann. Doch die Menschen um sie herum können oder wollen diese Andersmachung genauso wenig wahrnehmen wie das Streulicht oder die Beschaffenheit der Luft, weil es immer so ist, ganz normal._ _ “Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen, wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann.”_ (ZITAT)_ _ Jeder Versuch, dies anderen begreiflich zu machen, wird im Keim erstickt._ Das bildest du dir ein. Du übertreibst doch immer. Du bist zu empfindlich. Du steigerst dich da rein. Du bist doch das Problem._ _ Ihre Freunde wollen für immer in ihrem Heimatort bleiben, wo ihnen stets alles mühelos gelang, und sie können nicht begreifen, dass die Realität für die Erzählerin eine andere war und ist. Sie sehen die tausend Mikroaggressionen nicht, die ihr tagtäglich geschehen, weil sie blind sind für das eigene Privileg._ _ Die Protagonistin spricht ihre Muttersprache nicht einmal, sie verheimlicht ihren türkischen Vornamen und verwendet nur den deutschen. Dennoch sieht man ihr das türkische Erbe an und sie wird deswegen verhöhnt und beschimpft, was ihre Mutter nicht glauben mag: Das kann nicht sein, du bist doch Deutsche! Als sie von anderen Schülern niedergeschlagen und bewusstlos liegengelassen wird, sagt die Lehrerin, es sei ein Unfall gewesen und sie solle ‘mal lauter werden, mal ein bisschen robuster werden’ – und die Sache hat keine Konsequenzen._ _ Was ich fühle, wenn ich an diesen Roman denke:_ _ Vor allem empörte Hilflosigkeit, weil die Familie hier kein sicherer Ort ist und das Bildungssystem still und leise im Detail versagt. Die beklemmende Atmosphäre ist so dicht, dass sie geradezu zähflüssig aus den Seiten trieft, dass einem als Leser*in die Luft weg bleibt._ _ Die Erinnerungen der namenlosen Erzählerin sind geprägt von Schmerz und der stetig strauchelnden Suche nach… Ja, nach was eigentlich? Nach mehr. Nach Bildung, nach Akzeptanz. Nach Erklärungen dafür, warum die Dinge so waren, wie sie waren. Warum sie immer wieder weggestoßen oder zumindest auf Abstand gehalten wurde. Warum überall zweierlei Maß herrschte. Im Alter von zehn Jahren stand sie auf der Fensterbank, blickte hinunter auf die Straße und dachte: “Es könnte vorbei sein”, erschrak dann aber vor dem Gedanken._ _ Da sie erst den Realschulabschluss nachholen musste, ist sie schon älter, als sie am Oberstufengymnasium anfängt. Als ein Referendar ihr Alter erfährt, nimmt er das als Anlass, ihr fortan für die gleichen Leistungen deutlich weniger Punkte zu geben, denn sie habe ja einen Vorteil gegenüber den anderen. Sie fragt sich in sprachloser Niedergeschlagenheit, wo ihr Vorteil denn bitte schön herkommen soll._ _ “Ich sah nur die Raster in seinen Augen, durch die ich gefallen war und immer noch fiel. Ich sah, dass er darin zu Hause war. (…) »Ich werde das Schulsystem von innen heraus verändern«, diesen Satz hatte er mit Sicherheit gesagt und keine Lücke in seinem Denken entdeckt, weil es engmaschig war, weil es in sich schlüssig war, aber nicht außer sich, wo ich stand.”_ (ZITAT)_ _ Es geht allerdings nicht nur um Bildung:_ _ Auch häusliche Gewalt kommt immer wieder zur Sprache, denn das heimische Wohnzimmer kann allzu leicht zum Minenfeld werden, ein zu lauter Schritt der Auslöser für die nächste Explosion. Doch natürlich lässt sich das nicht vollkommen vom Thema Bildung trennen:_ _ »Sei still, sei still«, sagte meine Mutter, und still war ich, anstelle der Regionen, die für das Speichern von Vokabeln zuständig waren, befand sich in meinem Gehirn ein Areal von Stille, eine Qualität von Stille, wie sie auftrat kurz nach dem Geräusch von zerberstendem Glas.”_ (ZITAT)_ _ Diese Umgebung ist denkbar ungeeignet für ein Kind, das lernen will – was ihm aber ohnehin ausgeredet wird, weil es für höhere Bildung ‘richtiges Talent’ brauche, das ihm damit implizit abgesprochen wird. Der Bildungshunger wird gedeckelt, nicht unterstützt. Auch die Freunde fallen ihr immer wieder in den Rücken, mit überheblichen, passiv-aggressiven Bemerkungen, die sie als ‘anders’ brandmarken und ihre Leistungen kleinreden._ _ Ein phänomenales Debüt:_ _ Die Autorin zeichnet das Bild dieses beschwerlichen Bildungsaufstiegs mit ausdrucksstarken, ausgezeichnet ausformulierten Sätzen, die aufhorchen lassen. Die glasklare Schönheit der Sprache bildet einen scharfen Kontrast zu all dem Unrecht, das der Protagonistin widerfährt, dem bildungsfernen Milieu, aus dem sie stammt, und findet doch die perfekten Bilder dafür._ _ Das Buch rüttelt auf, zeigt einem in vielen Gedankensplittern ein Kaleidoskop des Alltagsrassismus und des Gatekeepings im Bildungssystem: du kommst hier nicht rein. Als die Protagonistin dann doch den Fuß in die Tür bekommt, wird ihr gönnerhaft versichert, sie sei ja nicht wie “die Anderen”. Die anderen Türkinnen? Die anderen Arbeiterkinder? Die Geschichte hallt nach, was sicher auch daran liegt, dass Deniz Ohde aus eigenen Erfahrungen schöpft._ _ Fazit_ _ Deniz Ohde erzählt eine intersektionale Bildungsbiographie: die namenlose Erzählerin ist intelligent und wissbegierig, wird als Halbtürkin und Arbeiterkind aus ärmlichen Verhältnissen aber immer wieder ausgegrenzt. Ihr wird deutlich zu verstehen gegeben, dass höhere Bildung nicht für ‘eine wie sie’ gedacht ist, doch sie kämpft sich mühsam über den zweiten Bildungsweg zum Realschulabschluss, dann zum Abitur und zum Studium – und fühlt sich immer noch ratlos und entwurzelt._ _ Das Buch hat mich oft wütend gemacht, denn das Verhalten vieler Lehrer*innen, Mitschüler*innen und sogar vermeintlicher Freund*innen ist mehr als schäbig, obwohl sie sich selber sicher als tolerant und wohlwollend sehen. Offenen Rassismus gibt es nur selten, unterschwelligen Rassismus dafür ständig – tausend abfällige oder herablassende Bemerkungen, tausend Ungerechtigkeiten, tausend feine Nadelstiche._ _ “Streulicht” ist ein großartiges Debüt, das den Leser in leisen, aber eindringlichen Worten aus der Komfortzone holt._ Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog: https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-deniz-ohde-streulicht/

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
22. Sept. 2022
Bewertung:3

3,5 Sterne Ich griff zu diesem Buch, da ich 10 Jahre in dem Ort gelebt habe, in dem das Buch spielt. Frau Ohdes Schreibstil ist sehr präzise und trifft den Ort und seine Bewohner genau, auch wenn ich mich dort immer sehr Wohlgefühl habe. Ich spürte die Wut, Verzweiflung und Ausweglosigkeit der Protagonistin sehr genau. Ich kann mir gut vorstellen, dass es solche Leben gibt, auch wenn es hier nicht nur um Vorurteile und Rassismus geht. Sie kam mir auch ein wenig wie ein Alien vor, das in dieses Leben hineingesetzt wurde und ganz deutlich beschreibt, wie ihm unbekannte Dinge passieren. Persönlich gestört hat mich, dass ein Außenstehender das Gefühl haben muss, dass er diesen Ort nie betreten will und das tut ihm Unrecht. Aber das ist ganz persönlich und keine objektive Kritik.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
11. Sept. 2022

Es gibt Dinge im Leben, die lassen sich mit allen Worten nicht für jemanden erklären, der sie nicht selbst gespürt oder gefühlt hat. Wie es ist, seine eigene Belanglosigkeit zu spüren, identitätslos zu sein, Gefahren abwenden zu müssen. „(...) ich bemühte mich, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen, damit niemand mich zur Rede stellen würde.“ - ein Satz, der oft in meinem Tagebuch gestanden hätte, wenn ich eines hätte. Ohde beschreibt mit wenigen Worten die Abgründe, die verstrickte Familienverhältnisse mit sich bringen. Was es bedeutet, nicht dazu zu zugehören. In Bildungseinrichtungen, zu Gleichaltrigen, zur Familie, zur Gesellschaft. Im Zentrum stehen ihre Gefühl der Fremdheit, der Ungleichheit, des Gelähmtseins und der Frage, was uns durch das Leben leitet. Was unsere Motive sind, wieso wir selbst darüber so wenig wissen oder sie verstehen. Wohin uns Angst (vor Veränderung) führen kann. Was Stagnation mit uns macht. Und warum es Menschen gibt, die durch das Raster der Gesellschaft fallen, egal wie intelligent sie sind. Ein großartiges Buch, das ich jedem nur ans Herz legen kann, der sich genau diese Fragen auch stellt. Es tut weh, es beschönigt nichts. Niemand kann dir sagen, welcher Weg der richtige ist, was man fühlen oder denken soll, außer man selbst.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp
3. Sept. 2022
Bewertung:2

Uff. Das war lang und zäh und viel zu langatmig. Ich hab die Hälfte einfach schon wieder vergessen, weil das alles zu sehr gewollt ist. Nicht unbedingt ein gutes Buch. Schade.

Streulicht
Streulichtvon Deniz OhdeSuhrkamp