Vierundsiebzig
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Description
Author Description
Ronya Othmann, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für ihr Schreiben wurde sie viele Male ausgezeichnet, u.a. mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für Die Sommer, ihren ersten Roman, bekam sie 2020 den Mara-Cassens-Preis zugesprochen, für den Lyrikband die verbrechen (2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises und den Horst Bingel-Preis 2022. Vierundsiebzig, ihr zweiter Roman, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Düsseldorfer Literaturpreis, dem Preis der SWR-Bestenliste 2024 sowie dem Erich-Loest-Preis 2025 ausgezeichnet.
Posts
"Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerwähnt bleibt. " Die Geschichte die Ronya Othmann erzählt ist auf jeden Fall eines, nämlich kaum zu ertragen. Fast stakatoartig berichtet die Autorin von dem was ihrer Familie und ihrem Volksstamm, den Êzîden, am 3. August 2014 und in den Jahren danach, angetan wurde. Und das nicht zum ersten Mal, sondern zum Vierundsiebzigsten mal. Täter sind auch die Nachbarn, die plötzlich zu Feinden werden. "Ich schreibe: Wie hält man es aus, nicht zu wissen, ob der Mann neben dir deine Verwandten, deine Freunde ermordet hat, deine Schwester, deine Cousine, deine Nachbarin vergewaltigt." Immer wieder reist Ronya Othmann in die Heimat ihrer Vorfahren, auch gemeinsam mit ihrem Vater. Besucht die Orte der Gräueltaten, der Massaker, der unfassbare Untaten. Sie spricht mit Freunden, Verwandten und Fremden und hört sich deren Geschichten an, auch das ungesagte, das zwischen den Wörtern versteckt bleibt. Und immer wieder: Ich schreibe Ich lese Ich schreibe Ich schreibe Ich denke .... Das Gelesene hämmert sich förmlich in meinen Kopf. In einer Nebengeschichte wird von der Gerichtsverhandlung gegen eine Deutsche berichtet, die mit einem Dschihadisten verheiratet ist und in Falludscha wohnt Das Ehepaar kaufte sich eine êsîdische Sklavin die vorher von Terrormilizen des islamischen Staates verschleppt wurde, samt ihrer kleinen Tochter. Das Ehepaar quälte und misshandelt vor allem die Tochter, ...bis diese starb. Dieses Buch ist schwer auszuhalten und ich brauchte zwischendurch Pausen und trotzdem hoffe ich, daß es viele LeserInnen finden wird. Denn wir müssen die Geschichte von diesen vierundsiebzig Genoziden an den Êzîden hören, lesen und darüber sprechen. Die Menschen dürfen nicht vergessen werden, die hierbei auf das Grausamste ihr Leben verloren haben. "Ich denke: Mein Vater sieht in der einen Landschaft die Abwesenheit der anderen. "
"In Deutschland wurde ich einmal gefragt, wie hoch die Lebenserwartung sei bei den Êzîden in unserem Herkunftsgebiet. Ich habe geantwortet, das kann keiner sagen. Wir sterben nicht, wir werden umgebracht" Das hier ist das erste Buch, das ich mit 5 Sternen bewerte, obwohl ich es nicht fertiglesen konnte. In "Vierundsiebzig" findet Ronya Othmann Worte für den Genozid an den Êzîden, spricht mit Überlebenden, erspart den Leser*innen nichts. Es ist wichtig, dass die Taten des IS und das Leid der Opfer eine Stimme bekommen und das Interesse der Weltöffentlichkeit, das viel zu schnell verschwunden ist. Was für ein hartes und mutiges und wichtiges Buch. Nachtrag: Es ist besonders wichtig, dass die Êzîdinnen hier eine Stimme bekommen und ihre Geschichten erzählen können, gegen das Vergessen.
Offene Wunden
Selten habe ich einen inhaltlich so dichten und gleichzeitig so lyrischen, tief persönlichen und doch sachlichen Text gelesen. Ronya Othmann spürt auf 500 Seiten ihren êzîdischen Wurzeln nach und der Text macht deutlich, dass diese Suche ein emotionales auf und ab zwischen Sprachlosigkeit und Wortgewandtheit darstellt. Die Autorin möchte keine Stimme ungehört und keine Information in Vergessenheit geraten lassen. Denn die Êzîden verdienen eine Sammlung wie jene, die Ronya Othmann hier geschaffen hat. Besonders getroffen hat mich die Erkenntnis, dass dieses Volk seit Jahrhunderten nicht zur Ruhe kommen darf, sondern immer wieder in den Kreislauf der Gewalt gezwungen wird, sodass offene Wunden niemals heilen können. Selten habe ich einen so hoffnungslosen Text gelesen und selten habe ich so viel über das Leid einer gesamten Bevölkerungsgruppe gelernt. Daher möchte ich für mich persönlich den historischen, psychologischen und informativen Wert des Romans davon trennen, was er mir literarisch geben konnte. Ersterer ist unglaublich kostbar und sicher ein großer Beitrag für alle Êzîden. Rein subjektiv blieb der Text bis zuletzt allerdings ein eher persönliches Sammelsurium von Ereignissen, Beobachtungen, Erfahrungsberichten und Informationen. Als Leserin fühlte ich mich teilweise etwas erschlagen von den zahlreichen Orts- und Personennamen sowie Zeit- und Schauplatzsprüngen. Aus literarischer Perspektive fehlte mir daher eine Art roter Faden, an dem ich mich hätte entlanghangeln können. Insbesondere in der ersten Hälfte hatte ich den Eindruck, dass die Autorin sich selbst erst in ihrem Text zurechtfinden musste - wobei die Suche nach den (richtigen) Worten schon regelmäßig reflektiert und literarisch eingebunden wird. Der Autorin habe ich mich durch diese spezielle Form sehr nahe gefühlt, an anderer Stelle hat sie das Lesen jedoch eher erschwert. Ronya Othmanns Text hat meiner Meinung nach sehr viel Aufmerksamkeit verdient - Und ich freue mich über jede êzîdische Geschichte, die mir als Nächstes etwas beibringt.
"Ich will mich aus dem Text streichen. Nur noch Auge und Ohr sein. Ein Tonband, ein Filmband. Ein Tonband, das nicht kaputtgeht von dem, was es hört. Ein Filmband, das nicht kaputtgeht von dem, was es sieht. Und das, was es gesehen hat, wiedergibt, beim ersten Mal wie beim zweiten wie beim dritten, beim vierten Mal, und nicht von Erinnerungen und Vergessen überschrieben wird." - Ronya Othmann, "Vierundsiebzig" In "Vierundsiebzig" dokumentiert Ronya Othmann ausgehend vom 3. August 2014, dem Tag, an dem IS-Terroristen das von der êzîdischen Minderheit besiedelte Gebiet im Sindschar-Gebirge im kurdischen Irak überfielen, Tausende ermordeten, entführten und versklavten, den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung. Schwer auszuhalten ist ihr rund 500 Seiten langer Text, der nicht wirklich in die Form eines Romans passt, mehr notwendiges Zeitdokument, Biographie und Reisebericht in einem ist. Die 1993 in München geborene Autorin bereist mit ihrem kurdisch-êzîdischen Vater ehemalige êzîdische Dörfer, trifft dort Verwandte und Überlebende in Camps, recherchiert in Büchern und besucht den Gerichtsprozess der deutschen IS-Terroristin Jennifer W. und ihrem irakischen Ehemann in Deutschland. Das Ehepaar hatte nach dem 3. August 2014 eine êzîdische Mutter und ihre Tochter als Sklavinnen gekauft und das Kind im Hof verdursten lassen. Immer wieder kehrt Ronya Othmann zum vierundsiebzigsten Massenmord, dem 3. August 2014, zurück, er bildet einen Rahmen für diese beeindruckende, beklemmende und erschütternde Rechercheleistung. Das Buch ist unbedingt lesenswert, es ruft den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung ins Gedächtnis und macht deutlich, dass allein durch das Framing des Völkermords als Genozid 2023 im Deutschen Bundestag kein Schlusspunkt gesetzt werden darf - den die Gewalt und Verfolgung der Êzîd*innen dauert weiter an.
Genozid : Ein Appell hinzuschauen und zuzuhören!
Nicht umsonst stand Ronya Othmann mit „Vierundsiebzig“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024. Als Tochter einer Deutschen und eines säkularen Jesiden thematisiert sie, stark autobiografisch beeinflusst, den Genozid, der 2014 an den Jesiden verübt wurde durch Terroristen des Islamischen Staats. Sie rüttelt wach, fordert auf hinzusehen, welch Gräueltaten sich im Sindschar-Gebirge zutrugen. Sie berichtet von Traumata, den zerstörten Behausungen, Leben, ja gar ganzer Dörfer, thematisiert einen Münchner Prozess, der gegen eine IS-Anhängerin geführt wurde und wir erfahren persönliches über ihre Beziehung zu ihrem Vater, was auch Gedanken über jesidische Identität hervorruft. Aber wie kommt es nun zum Romantitel „Vierundsiebzig“?! Der Titel gibt die Anzahl der Massaker wieder, denen die Jesiden mindestens in der Vergangenheit zum Opfer fielen, 74 historische Verfolgungen, der die Opfer ausgesetzt waren. Ronya Othmann besuchte die Orte des Geschehens im Nordirak ein paar Jahre später zusammen mit ihrem Vater, um mit Überlebenden und deren Angehörigen zu sprechen und sammelte dabei Material über die Geschichte der Jesiden und deren Verfolgung für ihren Roman. Aber Roman trifft es eigentlich nicht ganz, dieses Buch ist noch so viel mehr, vereint sowohl Geschichtsschreibung, Essay, Reiseliteratur, Erzählpassagen und Autobiografie in sich - gespickt mit fiktiven Elementen. Literarisch erforscht sie den Genozid in all seiner Komplexität - sie beschreibt erschütternde Einzelschicksale von Jesiden ebenso wie sie die Aufmerksamkeit auf die juristische und politische Aufarbeitung lenkt. Besonders hat mich mitfühlen lassen, wie eng die eigene Familiengeschichte der Autorin, mit der des jesidischen Volkes verknüpft ist. Ich habe unglaublich viel dazugelernt mit dieser Lektüre und habe den Appell der Autorin vernommen: Ich werde hinschauen, Ich werde zuhören! Ronya Othmanns „Vierundsiebzig“ ist ein Buch, dessen Dringlichkeit man sich nicht entziehen sollte - absolute Leseempfehlung!
Sehr bedrückend, aber: Must Read!
Wichtiges Buch über den Völkermord an den Êzîden.
Wie schon in ihrem Debütroman geht es Ronya Othmann auch in dem gerade erschienenen Buch „Vierundsiebzig“ um das Schicksal der Êzîden, hier vor allem um den Völkermord des „IS“ an Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft - mindestens 5.000 Menschen wurden ermordet. Die Terroristen vertrieben Zehntausende aus Ihrer Heimat, vergewaltigten, folterten, entführten und versklavten viele Frauen. Nach der Lektüre des Romans war ich zuerst skeptisch – denn es ist bei dokumentarischen Romanen immer ein Problem, dass man nicht ganz sicher ist, ob man nicht eigentlich ein Sachbuch liest, bei dem sich die Autorin oder der Autor Anmerkungen und Quellenangaben sparen möchte durch die Gattungsbezeichnung. Doch dann blätterte ich noch einmal zurück ins Buch und las einige Stellen wieder und erkannte, wie stimmig das ist. Denn Ronya Othmann berichtet hier nicht nur über diese grausamen Verbrechen an den Êzîden, sondern thematisiert gleichzeitig die Schwierigkeit, ja vielleicht sogar die Unmöglichkeit der Darstellung dieser Taten, dieses Leids. Es wird klar, dass dies mit einem Sachbuch aus Ihrer Sicht nur schwer gelingen kann und für vieles überhaupt keine Worte gefunden werden können, die uns Lesenden dieses Leid auch nur im Ansatz nahebringen können. „Man erhofft sich Linderung durch Subjektivität, die Gewalt vermittelt durch ein Ich.“ Da versagt jede Gattung und so folgt man der Autorin nicht nur bei der Suche nach Ihrer Familie, ihrer Heimat, ihrem Ursprung, sondern auch nach einer Form der Erzählung. Es gibt eben keine Möglichkeit, dieses Grauen so darzustellen, dass wir es verstehen, wir können es nur erahnen. Und so begleiten wir Ronya Othmann in diesem sehr lesenswerten Roman nicht nur bei der Darstellung eines Völkermordes, sondern auch bei der gleichzeitig kaum beantwortbaren Frage: „Aber wie erzählt man von den Verschwundenen, die in diesem Niemandsland, dieser Schwebe zwischen Leben und Tod festhängen?“ Unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar – vielen Dank an den Rowohlt Verlag!
»Vierundsiebzig« von Ronya Othmann ist meiner Meinung nach zurecht auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreis und mein persönlicher Favorit. Othmann hat mit ihrem Buch etwas von beeindruckender Tiefe und Intensität erschaffen, das weit über eine bloße Erzählung hinausgeht. Sie dokumentiert die Schrecken des Genozids an der êzîdischen Bevölkerung am 3. August 2014 in Shingal im Nordirak durch den IS. Êzîdische Männer wurden ermordet, Jungen als Kindersoldaten zwangsrekrutiert, Frauen und Mädchen entführt, misshandelt, vergewaltigt und in die Sklaverei verkauft, Dörfer und Tempel zerstört. Êzîd*innen wurden vertrieben, leben zum Teil noch immer in Camps. Viele werden bis heute vermisst. Es ist eine jahrhundertelange Geschichte der Gewalt und Verfolgung. Der 3. August 2014 war der 74. Völkermord an den Êzîden, der »Ferman 74«. Othmann reist mit ihrem Vater in die zerstörten Gebiete, zu den Ursprüngen und Tatorten. Sie reist an die Frontlinien, in die Camps, zu Verwandten. Sie sieht hin, hört zu und schreibt. Versucht Worte zu finden, Zeugnis abzulegen. Eindrucksvoll verwebt Othmann die Begegnungen mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Identität und Herkunft. »Ich schreibe: Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.« S. 13 Trotz der inhaltlichen Schwere zeichnet sich »Vierundsiebzig« auch durch seine literarische Schönheit aus. Mit poetischer, aber klarer Sprache versucht Othmann, das Unaussprechliche greifbar zu machen. Dabei bewegt sie sich zwischen Dokumentation, Essay und autobiografischem Bericht. Die Verbrechen des Genozids und die Geschichten sind teilweise nur schwer zu ertragen, doch es ist notwendig, sie zu lesen, von ihnen zu hören. Othmann hat mit »Vierundsiebzig« ein Werk gegen das Vergessen geschaffen, ein Buch, das sowohl literarisch als auch politisch relevant ist.

Ronya Othmann reist in die Heimat ihrer Familie und an Orte von Verbrechen an der Menschlichkeit. Sie versucht, ein unbeschreibliches Leid zu beschreiben, was ihr erschreckend gut gelingt.
"Ich schreibe es auf und will es wieder streichen. Ich schreibe Sätze, in denen ich rechtfertige, weshalb ich es aufschreibe, und Sätze, in denen ich rechtfertige, weshalb ich es streiche. Und streiche auch diese Sätze wieder. Was will ich beweisen? Dass sie nicht nur grausam waren, sondern besonders grausam. Dass ihre Handlungen auf Vernichtung abzielten. Auf Vernichtung, nicht als Oberbegriff, sondern im Detail, am Körper jeder einzelnen Frau." "Der Genozid ist eine technische Sache, für die man technische Begriffe gefunden hat. Eine technische Sache schreibe ich und meine damit: systematisch. Technische Begriffe schreibe ich und meine damit: juristisch. Es gibt keine Worte dafür, nur Begriffe und Zahlen. Kultureller Genozid, systematische Vernichtung, Gewaltverbrechen. Die Definitionen leiht man sich von anderen Genoziden. Wegen der Sprachlosigkeit, schreibe ich. Ich lese Artikel 1 der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords, geschlossen in New York am 9. Dezember 1948: Die Vertragsparteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten. Artikel 2: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören durch: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe." "Mam Ibrahim sagt: Was sollen wir machen. Über Nacht waren alle IS. Und über Nacht sind alle wieder Zivilisten geworden." "Mein Vater sagt: In Deutschland wurde ich einmal gefragt, wie hoch denn die Lebenserwartung sei bei den Êzîden, in unserem Herkunftsgebiet. Ich habe geantwortet, das kann keiner sagen. Wir sterben nicht, wir werden umgebracht." TW: Völkermord, Vergewaltigung, Tod, Tod von Kindern
Erzählstil ungewöhnlich, aber gut zu lesen. Inhaltlich sehr interessant. Sorgt definitiv für Nachdenken und Recherche.
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Ronya Othmann, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für ihr Schreiben wurde sie viele Male ausgezeichnet, u.a. mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für Die Sommer, ihren ersten Roman, bekam sie 2020 den Mara-Cassens-Preis zugesprochen, für den Lyrikband die verbrechen (2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises und den Horst Bingel-Preis 2022. Vierundsiebzig, ihr zweiter Roman, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Düsseldorfer Literaturpreis, dem Preis der SWR-Bestenliste 2024 sowie dem Erich-Loest-Preis 2025 ausgezeichnet.
Posts
"Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerwähnt bleibt. " Die Geschichte die Ronya Othmann erzählt ist auf jeden Fall eines, nämlich kaum zu ertragen. Fast stakatoartig berichtet die Autorin von dem was ihrer Familie und ihrem Volksstamm, den Êzîden, am 3. August 2014 und in den Jahren danach, angetan wurde. Und das nicht zum ersten Mal, sondern zum Vierundsiebzigsten mal. Täter sind auch die Nachbarn, die plötzlich zu Feinden werden. "Ich schreibe: Wie hält man es aus, nicht zu wissen, ob der Mann neben dir deine Verwandten, deine Freunde ermordet hat, deine Schwester, deine Cousine, deine Nachbarin vergewaltigt." Immer wieder reist Ronya Othmann in die Heimat ihrer Vorfahren, auch gemeinsam mit ihrem Vater. Besucht die Orte der Gräueltaten, der Massaker, der unfassbare Untaten. Sie spricht mit Freunden, Verwandten und Fremden und hört sich deren Geschichten an, auch das ungesagte, das zwischen den Wörtern versteckt bleibt. Und immer wieder: Ich schreibe Ich lese Ich schreibe Ich schreibe Ich denke .... Das Gelesene hämmert sich förmlich in meinen Kopf. In einer Nebengeschichte wird von der Gerichtsverhandlung gegen eine Deutsche berichtet, die mit einem Dschihadisten verheiratet ist und in Falludscha wohnt Das Ehepaar kaufte sich eine êsîdische Sklavin die vorher von Terrormilizen des islamischen Staates verschleppt wurde, samt ihrer kleinen Tochter. Das Ehepaar quälte und misshandelt vor allem die Tochter, ...bis diese starb. Dieses Buch ist schwer auszuhalten und ich brauchte zwischendurch Pausen und trotzdem hoffe ich, daß es viele LeserInnen finden wird. Denn wir müssen die Geschichte von diesen vierundsiebzig Genoziden an den Êzîden hören, lesen und darüber sprechen. Die Menschen dürfen nicht vergessen werden, die hierbei auf das Grausamste ihr Leben verloren haben. "Ich denke: Mein Vater sieht in der einen Landschaft die Abwesenheit der anderen. "
"In Deutschland wurde ich einmal gefragt, wie hoch die Lebenserwartung sei bei den Êzîden in unserem Herkunftsgebiet. Ich habe geantwortet, das kann keiner sagen. Wir sterben nicht, wir werden umgebracht" Das hier ist das erste Buch, das ich mit 5 Sternen bewerte, obwohl ich es nicht fertiglesen konnte. In "Vierundsiebzig" findet Ronya Othmann Worte für den Genozid an den Êzîden, spricht mit Überlebenden, erspart den Leser*innen nichts. Es ist wichtig, dass die Taten des IS und das Leid der Opfer eine Stimme bekommen und das Interesse der Weltöffentlichkeit, das viel zu schnell verschwunden ist. Was für ein hartes und mutiges und wichtiges Buch. Nachtrag: Es ist besonders wichtig, dass die Êzîdinnen hier eine Stimme bekommen und ihre Geschichten erzählen können, gegen das Vergessen.
Offene Wunden
Selten habe ich einen inhaltlich so dichten und gleichzeitig so lyrischen, tief persönlichen und doch sachlichen Text gelesen. Ronya Othmann spürt auf 500 Seiten ihren êzîdischen Wurzeln nach und der Text macht deutlich, dass diese Suche ein emotionales auf und ab zwischen Sprachlosigkeit und Wortgewandtheit darstellt. Die Autorin möchte keine Stimme ungehört und keine Information in Vergessenheit geraten lassen. Denn die Êzîden verdienen eine Sammlung wie jene, die Ronya Othmann hier geschaffen hat. Besonders getroffen hat mich die Erkenntnis, dass dieses Volk seit Jahrhunderten nicht zur Ruhe kommen darf, sondern immer wieder in den Kreislauf der Gewalt gezwungen wird, sodass offene Wunden niemals heilen können. Selten habe ich einen so hoffnungslosen Text gelesen und selten habe ich so viel über das Leid einer gesamten Bevölkerungsgruppe gelernt. Daher möchte ich für mich persönlich den historischen, psychologischen und informativen Wert des Romans davon trennen, was er mir literarisch geben konnte. Ersterer ist unglaublich kostbar und sicher ein großer Beitrag für alle Êzîden. Rein subjektiv blieb der Text bis zuletzt allerdings ein eher persönliches Sammelsurium von Ereignissen, Beobachtungen, Erfahrungsberichten und Informationen. Als Leserin fühlte ich mich teilweise etwas erschlagen von den zahlreichen Orts- und Personennamen sowie Zeit- und Schauplatzsprüngen. Aus literarischer Perspektive fehlte mir daher eine Art roter Faden, an dem ich mich hätte entlanghangeln können. Insbesondere in der ersten Hälfte hatte ich den Eindruck, dass die Autorin sich selbst erst in ihrem Text zurechtfinden musste - wobei die Suche nach den (richtigen) Worten schon regelmäßig reflektiert und literarisch eingebunden wird. Der Autorin habe ich mich durch diese spezielle Form sehr nahe gefühlt, an anderer Stelle hat sie das Lesen jedoch eher erschwert. Ronya Othmanns Text hat meiner Meinung nach sehr viel Aufmerksamkeit verdient - Und ich freue mich über jede êzîdische Geschichte, die mir als Nächstes etwas beibringt.
"Ich will mich aus dem Text streichen. Nur noch Auge und Ohr sein. Ein Tonband, ein Filmband. Ein Tonband, das nicht kaputtgeht von dem, was es hört. Ein Filmband, das nicht kaputtgeht von dem, was es sieht. Und das, was es gesehen hat, wiedergibt, beim ersten Mal wie beim zweiten wie beim dritten, beim vierten Mal, und nicht von Erinnerungen und Vergessen überschrieben wird." - Ronya Othmann, "Vierundsiebzig" In "Vierundsiebzig" dokumentiert Ronya Othmann ausgehend vom 3. August 2014, dem Tag, an dem IS-Terroristen das von der êzîdischen Minderheit besiedelte Gebiet im Sindschar-Gebirge im kurdischen Irak überfielen, Tausende ermordeten, entführten und versklavten, den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung. Schwer auszuhalten ist ihr rund 500 Seiten langer Text, der nicht wirklich in die Form eines Romans passt, mehr notwendiges Zeitdokument, Biographie und Reisebericht in einem ist. Die 1993 in München geborene Autorin bereist mit ihrem kurdisch-êzîdischen Vater ehemalige êzîdische Dörfer, trifft dort Verwandte und Überlebende in Camps, recherchiert in Büchern und besucht den Gerichtsprozess der deutschen IS-Terroristin Jennifer W. und ihrem irakischen Ehemann in Deutschland. Das Ehepaar hatte nach dem 3. August 2014 eine êzîdische Mutter und ihre Tochter als Sklavinnen gekauft und das Kind im Hof verdursten lassen. Immer wieder kehrt Ronya Othmann zum vierundsiebzigsten Massenmord, dem 3. August 2014, zurück, er bildet einen Rahmen für diese beeindruckende, beklemmende und erschütternde Rechercheleistung. Das Buch ist unbedingt lesenswert, es ruft den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung ins Gedächtnis und macht deutlich, dass allein durch das Framing des Völkermords als Genozid 2023 im Deutschen Bundestag kein Schlusspunkt gesetzt werden darf - den die Gewalt und Verfolgung der Êzîd*innen dauert weiter an.
Genozid : Ein Appell hinzuschauen und zuzuhören!
Nicht umsonst stand Ronya Othmann mit „Vierundsiebzig“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024. Als Tochter einer Deutschen und eines säkularen Jesiden thematisiert sie, stark autobiografisch beeinflusst, den Genozid, der 2014 an den Jesiden verübt wurde durch Terroristen des Islamischen Staats. Sie rüttelt wach, fordert auf hinzusehen, welch Gräueltaten sich im Sindschar-Gebirge zutrugen. Sie berichtet von Traumata, den zerstörten Behausungen, Leben, ja gar ganzer Dörfer, thematisiert einen Münchner Prozess, der gegen eine IS-Anhängerin geführt wurde und wir erfahren persönliches über ihre Beziehung zu ihrem Vater, was auch Gedanken über jesidische Identität hervorruft. Aber wie kommt es nun zum Romantitel „Vierundsiebzig“?! Der Titel gibt die Anzahl der Massaker wieder, denen die Jesiden mindestens in der Vergangenheit zum Opfer fielen, 74 historische Verfolgungen, der die Opfer ausgesetzt waren. Ronya Othmann besuchte die Orte des Geschehens im Nordirak ein paar Jahre später zusammen mit ihrem Vater, um mit Überlebenden und deren Angehörigen zu sprechen und sammelte dabei Material über die Geschichte der Jesiden und deren Verfolgung für ihren Roman. Aber Roman trifft es eigentlich nicht ganz, dieses Buch ist noch so viel mehr, vereint sowohl Geschichtsschreibung, Essay, Reiseliteratur, Erzählpassagen und Autobiografie in sich - gespickt mit fiktiven Elementen. Literarisch erforscht sie den Genozid in all seiner Komplexität - sie beschreibt erschütternde Einzelschicksale von Jesiden ebenso wie sie die Aufmerksamkeit auf die juristische und politische Aufarbeitung lenkt. Besonders hat mich mitfühlen lassen, wie eng die eigene Familiengeschichte der Autorin, mit der des jesidischen Volkes verknüpft ist. Ich habe unglaublich viel dazugelernt mit dieser Lektüre und habe den Appell der Autorin vernommen: Ich werde hinschauen, Ich werde zuhören! Ronya Othmanns „Vierundsiebzig“ ist ein Buch, dessen Dringlichkeit man sich nicht entziehen sollte - absolute Leseempfehlung!
Sehr bedrückend, aber: Must Read!
Wichtiges Buch über den Völkermord an den Êzîden.
Wie schon in ihrem Debütroman geht es Ronya Othmann auch in dem gerade erschienenen Buch „Vierundsiebzig“ um das Schicksal der Êzîden, hier vor allem um den Völkermord des „IS“ an Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft - mindestens 5.000 Menschen wurden ermordet. Die Terroristen vertrieben Zehntausende aus Ihrer Heimat, vergewaltigten, folterten, entführten und versklavten viele Frauen. Nach der Lektüre des Romans war ich zuerst skeptisch – denn es ist bei dokumentarischen Romanen immer ein Problem, dass man nicht ganz sicher ist, ob man nicht eigentlich ein Sachbuch liest, bei dem sich die Autorin oder der Autor Anmerkungen und Quellenangaben sparen möchte durch die Gattungsbezeichnung. Doch dann blätterte ich noch einmal zurück ins Buch und las einige Stellen wieder und erkannte, wie stimmig das ist. Denn Ronya Othmann berichtet hier nicht nur über diese grausamen Verbrechen an den Êzîden, sondern thematisiert gleichzeitig die Schwierigkeit, ja vielleicht sogar die Unmöglichkeit der Darstellung dieser Taten, dieses Leids. Es wird klar, dass dies mit einem Sachbuch aus Ihrer Sicht nur schwer gelingen kann und für vieles überhaupt keine Worte gefunden werden können, die uns Lesenden dieses Leid auch nur im Ansatz nahebringen können. „Man erhofft sich Linderung durch Subjektivität, die Gewalt vermittelt durch ein Ich.“ Da versagt jede Gattung und so folgt man der Autorin nicht nur bei der Suche nach Ihrer Familie, ihrer Heimat, ihrem Ursprung, sondern auch nach einer Form der Erzählung. Es gibt eben keine Möglichkeit, dieses Grauen so darzustellen, dass wir es verstehen, wir können es nur erahnen. Und so begleiten wir Ronya Othmann in diesem sehr lesenswerten Roman nicht nur bei der Darstellung eines Völkermordes, sondern auch bei der gleichzeitig kaum beantwortbaren Frage: „Aber wie erzählt man von den Verschwundenen, die in diesem Niemandsland, dieser Schwebe zwischen Leben und Tod festhängen?“ Unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar – vielen Dank an den Rowohlt Verlag!
»Vierundsiebzig« von Ronya Othmann ist meiner Meinung nach zurecht auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreis und mein persönlicher Favorit. Othmann hat mit ihrem Buch etwas von beeindruckender Tiefe und Intensität erschaffen, das weit über eine bloße Erzählung hinausgeht. Sie dokumentiert die Schrecken des Genozids an der êzîdischen Bevölkerung am 3. August 2014 in Shingal im Nordirak durch den IS. Êzîdische Männer wurden ermordet, Jungen als Kindersoldaten zwangsrekrutiert, Frauen und Mädchen entführt, misshandelt, vergewaltigt und in die Sklaverei verkauft, Dörfer und Tempel zerstört. Êzîd*innen wurden vertrieben, leben zum Teil noch immer in Camps. Viele werden bis heute vermisst. Es ist eine jahrhundertelange Geschichte der Gewalt und Verfolgung. Der 3. August 2014 war der 74. Völkermord an den Êzîden, der »Ferman 74«. Othmann reist mit ihrem Vater in die zerstörten Gebiete, zu den Ursprüngen und Tatorten. Sie reist an die Frontlinien, in die Camps, zu Verwandten. Sie sieht hin, hört zu und schreibt. Versucht Worte zu finden, Zeugnis abzulegen. Eindrucksvoll verwebt Othmann die Begegnungen mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Identität und Herkunft. »Ich schreibe: Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.« S. 13 Trotz der inhaltlichen Schwere zeichnet sich »Vierundsiebzig« auch durch seine literarische Schönheit aus. Mit poetischer, aber klarer Sprache versucht Othmann, das Unaussprechliche greifbar zu machen. Dabei bewegt sie sich zwischen Dokumentation, Essay und autobiografischem Bericht. Die Verbrechen des Genozids und die Geschichten sind teilweise nur schwer zu ertragen, doch es ist notwendig, sie zu lesen, von ihnen zu hören. Othmann hat mit »Vierundsiebzig« ein Werk gegen das Vergessen geschaffen, ein Buch, das sowohl literarisch als auch politisch relevant ist.

Ronya Othmann reist in die Heimat ihrer Familie und an Orte von Verbrechen an der Menschlichkeit. Sie versucht, ein unbeschreibliches Leid zu beschreiben, was ihr erschreckend gut gelingt.
"Ich schreibe es auf und will es wieder streichen. Ich schreibe Sätze, in denen ich rechtfertige, weshalb ich es aufschreibe, und Sätze, in denen ich rechtfertige, weshalb ich es streiche. Und streiche auch diese Sätze wieder. Was will ich beweisen? Dass sie nicht nur grausam waren, sondern besonders grausam. Dass ihre Handlungen auf Vernichtung abzielten. Auf Vernichtung, nicht als Oberbegriff, sondern im Detail, am Körper jeder einzelnen Frau." "Der Genozid ist eine technische Sache, für die man technische Begriffe gefunden hat. Eine technische Sache schreibe ich und meine damit: systematisch. Technische Begriffe schreibe ich und meine damit: juristisch. Es gibt keine Worte dafür, nur Begriffe und Zahlen. Kultureller Genozid, systematische Vernichtung, Gewaltverbrechen. Die Definitionen leiht man sich von anderen Genoziden. Wegen der Sprachlosigkeit, schreibe ich. Ich lese Artikel 1 der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords, geschlossen in New York am 9. Dezember 1948: Die Vertragsparteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten. Artikel 2: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören durch: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe." "Mam Ibrahim sagt: Was sollen wir machen. Über Nacht waren alle IS. Und über Nacht sind alle wieder Zivilisten geworden." "Mein Vater sagt: In Deutschland wurde ich einmal gefragt, wie hoch denn die Lebenserwartung sei bei den Êzîden, in unserem Herkunftsgebiet. Ich habe geantwortet, das kann keiner sagen. Wir sterben nicht, wir werden umgebracht." TW: Völkermord, Vergewaltigung, Tod, Tod von Kindern