Ein Kinderspiegel

Ein Kinderspiegel

Hardcover

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Beschreibung

EIN KINDERSPIEL

»Spiegel: noch nie hat jemand wissend beschrieben, was ihr in euerem Wesen seid.

Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit.

Ihr, noch des leeren Saales Verschwender –, wenn es dämmert, wie Wälder weit … Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender durch eure Unbetretbarkeit. Manchmal seid ihr voll Malerei Einige scheinen in Euch gegangen –, andere schicktet ihr scheu vorbei.«

In Jericho, vor zehntausend Jahren, mußten Menschen sich über Wasser beugen um ein zerfließendes, schon von ihrem Atem bewegbares Bild von sich selbst zu erblicken, ihren eigenen Augen zu begegnen, zu erstaunen vor sich. In der Menschheit ältester Stadt, in eben diesem Jericho, haben Archäologen keine Spiegel gefunden. Zweitausend Jahre später (achttausend Jahre vor uns ist das immer noch) lebten im anatolischen Çatalhüyük Menschen städtisch zusammen, und diese Städter hinterließen Spiegel, aus Obsidian gemachte, das ist schwarzes vulkanisches Naturglas, man polierte es in Çatalhüyük so fein, daß jeder sich in ihm entgegensehen konnte und im finsteren Glanz der blank geriebenen Erdausspeiung eine dunkle Wahrnehmung von seinem Gesicht gewann.

Perser, Ägypter, Juden besaßen polierte Metallscheiben, um sich zu spiegeln, Homer berichtet von Spiegelflächen aus Gold, es gab also Menschen, die sich in ihren Spiegeln entrückt in den Sonnenschimmer des Goldes sahen. Römer hatten Bronzespiegel, in Schottland fand man zu Spiegeln polierte Steinplatten der jüngeren Steinzeit. Der Mensch bedarf der Spiegel als einem Mittel der Erkenntnis, er will ein Bild von sich sehen können.

Wir Heutigen haben silberhintergossene Glasspiegel. Mit einer Versilberungs- und einer Reduktionsflüssigkeit wird chemisch Silber hinter Glas gebracht, nur 1/16000 Millimeter beträgt der Durchmesser des Silberhauches, der das Spiegelwunder bewirkt.

Man weiß Spiegel herzustellen seit achttausend Jahren, jedoch »noch nie hat jemand wissend beschrieben«, was sie in ihrem Wesen sind. Zauberkraft, glaubte man, hätten sie, und sagten wahr, »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« War jemand gestorben im Haus, verhängte man die Spiegel, denn sie vermochten die Seele des Toten zu halten, er wäre auf ewig im Hause verblieben und gespenstig umgegangen, hätte man nicht ein Tuch über jeden Spiegel gehängt. Geheimnisse wurden in Spiegelschrift geschrieben und waren nur im Spiegel lesbar. Alles fangen Spiegel ein, das reglos vor ihnen Verweilende wie das was vorüberhuscht. Sie sagen nicht wahr, aber sie geben wahrhaft wieder. In einem äußersten Akt spiegelnder Kraft wirft ein Brennspiegel Sonnenlicht so heftig zurück, daß man Feuer mit ihm entzünden kann, der Spiegel vermittelt die Entbrennkräfte der Sonne, Vestalinnen benutzten Spiegel um die Heiligen Feuer auf diese Weise mit der reinen Sonne zu entflammen, Archimedes soll mit Brennspiegeln feindliche Schiffe vernichtet haben.

Gewöhnlich sind Spiegel kühl, so kühl, daß sie wie eine Eisfläche unseren Hauch annehmen, Sterbenden hielt man früher einen Spiegel vor den Mund um zu prüfen, ob sie noch atmen.

»Noch nie hat jemand wissend beschrieben«, was sie in ihrem Wesen sind – der Zauber, wenn man irgendwo, sei's im Foyer eines Theaters, in einem Cafe oder sonstwo in einem Spiegel an der Wand sieht, was um einen herum geschieht; man könnte sich umwenden und alles ungespiegelt betrachten, aber dem unwirklichen Spiegelbild traut man mehr Wahrheit zu und erwartet den Wink des Geheimen.

Was ein Bild zurückwirft, spiegelt. Ein Kind, das mich anschaut, spiegelt sich in meinen Augen. Warum soll es sich nicht in meinen Sätzen spiegeln? Berichten, erinnern ist: spiegeln, aus den »Zwischenräumen der Zeit« hervorziehen, wieder wahrnehmbarmachen.

Kinder habe ich mit Sätzen gesucht, und gezeigt in der Unbetretbarkeit von Worten, »die noch des leeren Saales Verschwender« und »wenn es dämmert, wie Wälder weit«. Es wird geschehen, was Sie nicht sogleich erwarten, wenn Sie das Buch aufschlagen: Sie werden sich selber sehen, denn Spiegeln wohnt wirklich Zauber inne, Sie werden es bemerken, mir ist es ebenso ergangen, unversehens erschien auch ich in den Rahmen, wo ich Kinder Islands und Anatoliens erwartete und von zeitrückwärts her Kinder, von denen man seit Jahrhunderten, Jahrtausenden vom Hörensagen, vom Lesen weiß – denn auch selbstwärts reicht die Magie des Geschriebenen, man sieht sich wieder, klein, in der Schule, mit Masern im Bett, auf dem Rummelplatz. Auch Sie, ich kenne Sie nicht, aber ich weiß, Sie werden sich auffinden zwischen den Seiten hier, Sie werden sich erinnern und den Kindern dieser Spiegel das Kind hinzufügen, das Sie gewesen sind. Sie werden sich erkennen. Die Kinderbildnisse dieses Buches, werden sich vermehren um die Bilder der Leser und Betrachter deren Zahl mir unbekannt bleiben wird. Die nicht sichtbaren Bilder, die Sie zwischen den Seiten und zwischen den Zeilen von sich auffinden, werden einen geheimen Reichtum des Buches ausmachen. Sich erinnern an das Kind, das man gewesen, ist der schmale schwankende Brückensteg auf dem man hingelangt zu allen Kindern dieser Welt. Die Sätze dieses Buches stehen zugunsten von Wehrlosen. Kinder sind wehrlos. Sie sind angewiesen auf uns.
Haupt-Genre
Romane
Sub-Genre
Zeitgenössische Romane
Format
Hardcover
Seitenzahl
288
Preis
29.00 €

Autorenbeschreibung

Ursula Ziebarth: deutsche Schriftstellerin, 1921–2018 Ursula Ziebarth studierte von 1940 bis 1945 Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik an den Universitäten in Berlin, Heidelberg und Straßburg. 1948 übersiedelte sie nach Worpswede, wo sie als freie Schriftstellerin und Journalistin lebte. Von August 1954 bis 1956 war sie die Geliebte Gottfried Benns. Nachdem sie 1955 eine mit Hilfe Benns erhaltene Lektorenstelle im Kölner Winkler-Verlag gekündigt hatte, war sie in den folgenden Jahrzehnten bis 1986 Mitarbeiterin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Ursula Ziebarth verfasste in den Fünfzigerjahren eine Reihe von Sachbüchern für Kinder. Ab 1976 erschienen einige literarische Werke von ihr und ab 2011 umfangreiche Teile ihres Projekts „Hadeskassiber“. Einer breiteren literarischen Öffentlichkeit bekannt wurde sie 2001 durch den Band „Hernach“, der die Briefe Gottfried Benns an Ursula Ziebarth sowie deren ausführliche Kommentare umfasst.