
Großartiger Roman, dem ich 6 von 5 Sternen gebe
Zwischen Hamburg und Hannover erstreckt sich die Lüneburger Heide. Hier lebt Jungschäfer Jannes auf einem Drei-Generationen-Hof. Oma Erika ist dement und lebt in einem Pflegeheim. Der Vater zeigt ebenfalls Anzeichen von Demenz. Die Mutter ist die stille Kraft des Hofes, der Großvater verkörpert die Tradition, die Schwester hat schon früh den Hof verlassen. Fernab einer Bauer-sucht-Frau-Idylle zeichnet Markus Thielemann ein beklemmende Szenario. Die Heide ist Einsamkeit und karge Landschaft, in der sich Wacholderbüsche schemenhaft gegen eine nebelgeschwängerte Szenerie abheben. Es ist wirklich kaum zu beschreiben, wieviel Atmosphäre in diesem Roman liegt. "Die Collies jagen aus dem Weiß und verschwinden Sekunden später wieder darin. Alle Geräusche sind gedämpft, geisterhaft sinkt das Gurren verborgener Kranichzüge aus der Höhe." Beklemmende Momente, wo Jannes böse Ahnungen hat und eine weibliche Erscheinung sieht, zu der er Parallelen zu seiner Großmutter und ihrer Vergangenheit zieht. Gruselatmosphäre und Entsetzen, wenn der Roman Ausflüge macht in die Geschichte, damals zum Ende des zweiten Weltkriegs, als Zwangsarbeiter und Häftlinge des nahegelegenen KZs Bergen-Belsen in der Gegend waren und bis heute zu Jannes durchdringen. Und inmitten alldem befindet sich ein Filmteam des NDR, das Jannes und seinen Großvater in der scheinbaren Idylle der Heidschnuckenschäfer filmt. Während Opa Wilhelm vor der Kamera so richtig vom Leder zieht und weder der Wolf noch Heidedichter Herman Löns vor seinem Altnazi-Gedankengut Schonung findet, driftet Jannes ab. Das Filmteam schafft einen Abstand zwischen dem Zuschauer bzw. dem Leser und der tradionsbehafteten und von Heimatliebe durchtränkten Idylle der Heidelandschaft. Jannes aber sieht während der Filmaufnahmen eine schemenhafte Frauengestalt. Wer ist die geheimnisvolle hexenartige Gestalt, die immer wieder auftaucht? Als starkes Stilmittel wählt Markus Thielemann den Wolf, der sich in der Gegend neu ausbreitet und die Bauern und Schäfer in Angst und Schrecken versetzt. Hier findet eine Umbruchstelle zwischen Vergangenheit und Moderne statt, die der Wolf pointiert. Die Schnuckenherde wird gerissen, die scheinbare Ruhe gestört. Das märchenhafte, mystische der Geschichte wird durch das Auftauchen des Wolfes noch verstärkt. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich dieses Buch begeistert. Die Heide hat tatsächlich die beklemmende Atmosphäre eines Niemandslandes. Nichts als Landschaft, kleine Ortschaften irgendwo im Nirgendwo und dazu die Präsenz des Militärs wirken abstrakt und seltsam. Zudem hat Markus Thielemann hervorragend beschrieben, wie das heranwachsen in einem ländlichen Gebiet in Norddeutschland ist, wo man halb passiv alte Rollenmuster übernimmt. Die Dorfdisko, die abgelegenen vereinzelten Geschäfte, der Schützenverein und die Dorfschänke sind Realität. Jannes muss sich entscheiden, ob er bleibt und der Tradition folgt oder damit bricht. Er und seine Familie haben wenig Worte. Die Dialoge sind in knappen Zwei- oder Dreiwortsötzen verfasst. Umso mehr versteht es Thielemann mit seiner Schreibweise, die Landschaft, die Schnucken, die Atmosphäre im Stall und dem nahegelegenene Truppenübungsplatz durch kunstvollen Wortgespinsten in Szene zu setzen. Dabei wird die Heimatidiologie des norddeutschen Schäfers, die vielleicht seit dem zweiten Weltkrieg noch in deutschen Köpfen herumgeistert, aufgebrochen. Am Beispiel des Wolfes wird erneut Recht eingefordert; Völkerrecht, Lynchjustiz und Selbstschutz. Aktueller denn je lässt sich dieses Szenario auf momentane politische Geschehnisse übertragen. Ich kann diesen subtilen und zugleich wortreichen und kraftvollen Roman nur allerwärmstens empfehlen. Zurecht stand "Vom Norden rollt ein Donner" auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Für mich ist das Buch definitiv eines meiner Lieblingsbücher geworden!
Ein Anti-Heimatroman?
Nein, finde ich nicht. Der Wolf ist zurück in der Heide. Und auch das Völkische. Mittendrin Jannes, der junge Schäfer. Markus Thielemann ist eine sehr dichte Geschichte gelungen. Die Heide wirkt licht und weit, genauso aber düster und geheimnisvoll. Und auch in der Familie gibt es gut gehütete Geheimnisse. Lesenswert!