Mit «Antichristie» hat Mithu Sanyal ein Buch vorgelegt, wie ich es mag: Rasant erzählt, scheinbar vernerdete Erzählstrangwindungen und dabei werden wie in einer großen Dominosteinumschubswette sehr viele Gedankengänge angestoßen. Dieses Buch ist die Art unterhaltsame Zumutung…
«Wenn ich weniger Panik gehabt hätte, hätte ich mehr Panik gehabt, hätte Panik alle meine Nervenbahnen geflutet.» Mit «Antichristie» hat Mithu Sanyal ein Buch vorgelegt, wie ich es mag: Rasant erzählt, scheinbar vernerdete Erzählstrangwindungen und dabei werden wie in einer großen Dominosteinumschubswette sehr viele Gedankengänge angestoßen. Dieses Buch ist die Art unterhaltsame Zumutung, zeigte Sanyal doch zumindest einmal mehr auf, wie eurozentrisch meine (Schul-)Bildung war und ist und wie viel mehr Facetten an Ambiguität rund um mein Faible für das viktorianische England herumstaffiert werden müssen. «Antichristie» passt damit imho in eine Reihe mit «Babel» von R.F. Kuang. Denn auch Kuang zeigt auf, dass der goldene Glanz des britischen Empire ohne Ausbeutung und Raubbau an und in den Kolonien nicht möglich wäre. Und auch Kuang erzählt diese Geschichte in einem fantastischen, alternativen England — und stellt die Frage, wann und wie Widerstand nicht nur organisiert werden, sondern auch erfolgreich sein kann. Einen ähnlichen und doch ganz anderen Weg geht Sanyal und macht ihren Roman besonders für all jene zu einem besonderen Spaß, die Dr. Who und/oder Sherlock Holmes lieben. Denn mit Hilfe der Logik des Ersteren verschlägt es die Hauptfigur Durga in das London des Letzteren. Und während scheinbar ein Locked-Room-Mysterie in der Vergangenheit gelöst werden muss, taucht Durga in der Haut eines jungen Bengalen in die Diskussion der indischen, rechtelosen Bevölkerung ein, die diskutiert, ob und wie Indien unabhängig werden kann und wie sie sich der Willkür der Empire-Verantwortung effektiv entgegenstellen können. Dabei gibt es keine klaren Gut-gegen-Böse-Fronten, dafür viele Widersprüchlichkeiten und Grautöne. Ein Buch, das nicht nur Leerstellen in meiner Geschichtsbildung füllt, sondern auch viel über die Frontstellungen und Konflikte im Heute erzählt. Und ein Plädoyer für eine Superkraft: Ambiguitätstoleranz. «Und plötzlich hörte ich auf, mich darüber zu wundern, dass ich in der Vergangenheit gelandet war. Schließlich ist die Vergangenheit der Ort, an dem wir den größten Teil unserer Politik machen.»