realistisches Gedankenexperiment, aktuelle Themen, stimmiges Ende
Stellt euch vor, es gäbe eine App, mit der man über reale Gerichtsurteile abstimmen könnte. Jeder Mensch hätte eine Stimme. Jeder Mensch wäre plötzlich Richter – oder Henker... In "Wir sind das Urteil" spiegelt Nina Rudt ein solches Szenario wieder. Daraus entsteht nach und nach ein fiktives und dennoch äußerst realistisches Gedankenexperiment... Kommen wir aber zuerst einmal zum Inhalt: Ein Angeklagter. Millionen Richter. Und nur ein Klick, um über das Leben eines Menschen zu urteilen. Ein alternatives Deutschland in der heutigen Zeit: Das Rechtssystem wurde in Teilen digitalisiert, die Todesstrafe wieder eingeführt. Die App JUDGE ermöglicht es in ausgewählten Fällen, über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden. Freispruch, Haft oder Tod lauten die Wahlmöglichkeiten. Genau wie ihre Freunde schätzt die Schülerin Pinar die Vorteile von JUDGE. Jede Stimme zählt. Doch als Pinars kleiner Bruder eines schwerwiegenden Verbrechens beschuldigt und vor das Bürgergericht gestellt wird, eskaliert die Situation und Pinar sieht sich mit der Frage konfrontiert: Wie gefährlich ist JUDGE wirklich? Das Setting eines alternativen Deutschlands, in dem das Rechtssystem durch die App JUDGE revolutioniert wurde, hat mir ziemlich gut gefallen. Hier urteilen anonyme Massen über Leben, Schuld und Strafe, was die gesamte Erzählung interessant gestaltet. Die Hauptprotagonistin Pi ist die Erzählstimme der Geschichte und wird mitten in dieses System hineingezogen. Gemeinsam mit ihrer Familie steht sie nämlich plötzlich im Zentrum einer moralisch hochexplosiven Debatte, in der Gerechtigkeit letztlich nur noch eine Illusion ist. Misstrauen, Ausgrenzung und Hass machen sich breit, während die Grenzen zwischen richtig und falsch immer mehr verschwimmen. Die Charaktere sind an sich größtenteils differenziert dargestellt. Zwar fand ich Pis Entwicklung nicht immer nachvollziehbar aber zumindest ihr enger Freundeskreis punktet durch Loyalität und Hilfsbereitschaft. Selbst Jonathan, als vermeintlicher "Gegenspieler", besitzt mehr Nuancen, als man zunächst denkt. Gut gelungen sind hierbei vor allem die glaubwürdigen Dialoge zwischen den verschiedenen Personen. Die Autorin greift immer wieder aktuelle Themen auf, die das Zusammenleben der Menschen massiv beeinflussen: Rassismus, soziale Spaltung, die manipulative Macht der Medien und vor allem die Frage, wie anfällig eine Gesellschaft für digitale Einflussnahme ist. Ein starker Aspekt der Geschichte ist zudem der Versuch, verschiedene Perspektiven darzustellen, sowohl die der Opfer, als auch derer, die sich als Hüter der "Volksmeinung" sehen. Die Spannung bleibt demnach über die gesamte Handlung größtenteils konstant und erhält Unterstützung von einem stetig wachsenden moralischen Druck. Trotz der stärkeren Thematik hatte ich allerdings stellenweise das Gefühl, dass die Geschichte ein wenig zu schwarz-weiß erzählt wird. Viele Entwicklungen waren einfach ab einem gewissen Punkt vorhersehbar. Dennoch war das Ende stimmig, konsequent und ließ mich mit genau der richtigen Mischung aus Unbehagen und Nachdenklichkeit zurück. Für mich persönlich wirkt der Gedanke an JUDGE übrigens erschreckend real. So unrealistisch wie man vielleicht meinen mag, ist dieses Szenario nämlich gar nicht. In einer Zeit, in der Likes, Retweets und Shitstorms über Karrieren, Leben und öffentliche Meinungen entscheiden, wäre der Sprung zu einer abstimmungsbasierten Justiz gar nicht so weit. Ich gebe zu, die Idee, Gerechtigkeit durch Masse zu erzeugen, ist irgendwie verführerisch, aber im selben Atemzug auch gefährlich. Das Buch stellt sich tatsächlich genau diesen Überlegungen und zwingt den Leser, sich damit auseinanderzusetzen. "Wir sind das Urteil" ist somit ein interessanter Roman mit hoher Gesellschaftskritik. Obwohl das Buch eigentlich als Jugendroman gilt, bietet es auch für erwachsene Leser wichtige Denkanstöße und erschreckend reale Zukunftsszenarien.