Ich gehe nicht auf den Inhalt ein, den die meisten sicherlich kennen. Auch möchte ich nicht auf die Figur der Ehebrecherin eingehen, denn da reiht sich Anna Karenina in die Reihe von Effi Briest und Emma Bovary mit vielen Aspekten ein: Eine Frau, die von der Gesellschaft zu Grunde gerichtet wird, weil sie ihr persönliches Glück sucht. Ich möchte lieber auf ein paar Dinge eingehen, die ich bei Tolstois Werk herausragend finde. Dabei könnte ich über viele Stellen schreiben, fokussiere mich aber auf ein paar wenige. Und zwar, wie es Tolstoi mit Bildern und Gegensätzen schafft, so viel zu erzählen. Stadt- und Landleben: Auf dem Land scheinen fast alle Figuren frei von gesellschaftlichen Konventionen glücklich zu sein. In der Stadt, eingezwängt von Pflichten und beobachtet vom gesellschaftlichen Auge, sind sie unglücklich und schwermütig. Die Geschwister Anna und Stepan: Beide betrügen ihre Ehepartner und in diesem Betrug zeigt sich eigentlich alles: Stepan, der aus Lust und Langeweile betrügt, erhält weder gesellschaftlich noch familiär Konsequenzen. Anna, die aus Liebe Ehebruch begeht, verliert alles: Ihre Ehre und Anerkennung, Freundschaften und ihren Sohn. Lewin und Kitty / Anna und Wronskij: Die beiden Herren könnten sicherlich nicht unterschiedlicher sein und das zeigt sich wunderbar in den beiden Landsitzen. Im Gegensatz zu Lewins Gut ist bei Wronskij alles modern und luxuriös. Hier äußert sich für mich Wronskijs große Oberflächlichkeit und Eitelkeit, die vergänglich ist und am Ende scheitert, und Lewins tiefen Charakter, der sich durch den ganzen Roman spiegelt und der sein Glück finden kann. Hierzu reihen sich Anna und Kitty: Beide verlieben sich in Wronskij und werden von diesem enttäuscht. Es ist spannend, wie sich die Handlungsstränge der Paare entwickeln. Anna und Wronskij, die anfänglich gewinnen, da sie sich verlieben. Kitty (von Wronskij) und Lewin (von Kitty), die in ihrer Liebe zurückgewiesen werden. Im Laufe der Geschichte dreht sich diese Konstellation aber völlig. Kitty und Lewin finden zueinander und damit ihr persönliches Glück. Anna und Wronskij, die sich immer mehr verlieren und am Ende sich gegenseitig zerstören. Ein Roman, der länger nachhallen wird, als ich bei der Lektüre gedacht habe. Auch wenn ich an dieser Stelle sagen muss, dass ich mit Anna als Figur nie wirklich warm geworden bin und sie oft sehr unnahbar und unerträglich fand.