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Bewertung:3.5

Mein lieber Ford im Flivver!

Ein sehr interessantes Buch. Ich bin froh, dass ich es gelesen habe. Allerdings gibt es auch so viel zu diskutieren oder kommentieren, dass ich nun gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vorwegnehmen möchte ich erstmal, dass meine Bewertung voraussetzt, dass das Buch gelesen wurde und Spoiler enthält. ______ Mal abgesehen davon, dass es natürlich unheimlich eindrucksvoll ist, dass Huxley im Jahr 1931 dieses Buch geschrieben und somit die Gesellschaft, die Wissenschaft und ihre zukünftige, mögliche Entwicklung, bis zum Jahr 2540 („632 n.F.“) durchdacht hat und ich an dieser von ihm konstruierten Welt in meiner Ehrfurcht nichts die fantastische Erzählkunst Betreffendes auszusetzen habe, gibt es jedoch am Plot, wie ich finde, einige Kritikpunkte. 1. Uneindeutige Rollenbesetzung Für mein Empfinden wurden die Hauptcharaktere der Geschichte holprig eingeführt und teilweise wie heiße Kartoffeln fallen gelassen. Als Leserin war ich lange unschlüssig, auf welche Person Huxley es als Protagonist/als Protagonistin abgesehen hat. Ich bevorzuge es allerdings, das zu wissen und es dient meiner Meinung nach auch der Leserführung. Die ersten Kapitel zeigen der Leserschaft erst einmal nur die „schöne neue Welt“, führen in die künstlich-wissenschaftliche Erzeugung der Menschen ohne Beteiligung eines lebenden Wirtes ein und zielen noch nicht auf die Charaktere ab. Sodann werden jedoch schnell Lenina Crowne und Henry Foster eingeführt, welche in meiner anfänglichen Wahrnehmung wohl die Protagonisten sein sollten. Vor allem wird diese Annahme, wie ich finde, dadurch gefördert, dass das Gespräch zwischen Lenina und Fanny zu Beginn zeigt, dass auch Lenina (selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst war) das System hinterfragt. Sie versteht nicht, wieso sie nicht nur mit Henry Foster ausgehen sollte und hat keine Lust auf die Diskussionen mit Fanny. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt, dass vermutlich eine Liebesbeziehung zwischen ihr und Henry, die es ja so nicht geben darf, Thema wird (aber Fehlanzeige). Kurz später in der Handlung dreht sich nun auf einmal alles um Bernard Marx und seine Betrachtungen. Die unerwiderte „Liebe“ von Bernard zu Lenina wird in den Fokus gerückt. Er sehnt sich nach ihr und verabscheut all die Buhler, mit welchen sie sich einlässt, da sie von diesen wie„Frischfleisch“ gesehen wird. Die weiteren Handlungen, wie Bernards und Leninas gemeinsame Reise nach New Mexico und die dortigen Entwicklungen, bestätigten mir nun den Verdacht, dass wohl Bernard Marx der Protagonist in dieser Geschichte sein soll. Positiv aufgenommen habe ich das vor allem deshalb, weil er zu Beginn auch der einzige Charakter ist, für welchen man Sympathie aufbringen kann, da er das System wie gesagt hinterfragt, wodurch er auch zum Außenseiter wird. Nachdem Bernard und Lenina jedoch von der Reise zurückkehren, spielt Bernard plötzlich eine untergeordnete Rolle, der Fokus liegt nicht mehr auf ihm, sondern auf dem „Wilden“, John Savage, welchen er aus New Mexico mit in die schöne neue Welt nimmt.* Bernard ist als Charakter fortan beinahe vergessen und bis zum Ende des Romans dreht sich alles um den „Wilden“, welcher nun aber wirklich als der Protagonist bezeichnet werden kann. Er durchschaut die schöne neue Welt und verweigert, daran teilzunehmen. Auch er entwickelt eine starke Gefühle für Lenina, welche jedoch auch unerwidert bleiben. 2. Charakterentwicklung Einige meiner Meinungen zu den Charakteren wurden bereits unter dem ersten Punkt offenbar. So finde ich, dass nicht nur die Rollen unklar verteilt waren und teilweise bestimmte Charaktere im Laufe des Romans auf einmal unwichtig wurden, wie Bernard und Lenina, sondern auch, dass deren Entwicklungen anders verlaufen sind, als ich es erwartet oder befürwortet hätte. Von beiden, Bernard und Lenina, hatte ich mir eine interessantere Entwicklung gewünscht. Bei Lenina wird allerdings schnell klar, dass sie zu sehr unter den „Einflüsterungen“ des Staates gelitten hat, als dass sie ihrem selbstgemachten und von ihr bevorzugten Gefängnis entkommen könnte oder wollte. Der Hauch ihres Rebellierens im Gespräch mit Fanny zu Beginn, wurde danach im Keim erstickt und solche Gedanken sind ihr (leider) nie wieder gekommen. Sie steckt voll und ganz „im Film“ dieser schönen neuen Welt und hinterfragt nichts mehr. Bernard jedoch hat mich als Charakter ziemlich enttäuscht. Er hatte das System von Anfang an verstanden (trotz der auch bei ihm vorgenommenen „Einflüsterungen“) und eine heftige Abneigung entwickelt. In diesem Bewusstsein um die Wahrheit finde ich es eigentlich unmöglich, dass er -wie geschehen- später wieder so in seiner Meinung strauchelt, dass er nicht zu dem „Wilden“ hält, als dieser versucht, die Gesellschaft zu warnen und zu befreien, dass er sich sogar gegen ihn stellt und dass er auf keinen Fall von dort weggeschickt werden will (dorthin wo er das System nicht mehr ertragen müsste und seine Ruhe hätte). Ich saß bei den späteren Handlungen, die Bernard einbezogen, teilweise mit einem Fragezeichen auf dem Gesicht vor dem Buch. Vielleicht war das alles von Huxley ganz genau so gewollt, um zu zeigen, dass selbst Bernard, der intelligent genug gezüchtet wurde und zusätzlich das System eigenständig durchschaut hatte, es trotzdem nicht gänzlich möglich war, seiner Konditionierung wirklich zu entkommen, dann ziehe ich meinen Hut. Aber im Interesse des Mitfieberns als Leserin, hätte ich mir trotzdem eine andere, positivere Entwicklung für ihn gewünscht, da er als Charakter einfach ungemeines Potential hatte. Obwohl er am Ende ja dann doch auf die Insel gezogen ist, aber trotzdem bleibt mir ein bitterer Nachgeschmack. 3. Die Handlung Hinsichtlich der Handlung, muss ich sagen, dass ich es unlogisch fand, dass der „Wilde“ in der schönen neuen Welt so willkommen geheißen wird (selbst wenn es nur aus Neugierde ist).* Bei jedem Zweifler, wird eine Debatte losgetreten, ob die Person zu verbannen ist aber eine Person in die Gesellschaft holen, die lebend geboren und von einer Mutter erzogen wurde und keine entsprechenden Beschwörungen eingeflößt bekommen hat, wird dann begrüßt? Das ergibt doch keinen Sinn. Der „Wilde“ ist natürlich dann sowieso aus freien Stücken wieder gegangen, weil er es schrecklich fand, aber trotzdem. Das Ende und wie es um den „Wilden“ bestellt ist, finde ich schrecklich und schade. Auch, dass er so wahnsinnig wurde, dass er Lenina auspeitscht, als diese kommt, um ihm zu helfen (falls das ihr Ziel war), das hätte ich nicht gedacht. Er war doch eigentlich der einzige Vernünftige und Romantiker dieser Geschichte. Ich hätte mir zwar ein besseres Ende für ihn gewünscht, aber dass er Suizid begeht, erscheint im Kontext der Geschichte und der Geschehnisse letztlich plausibel. ___ So oder so, es ist trotz allem ein brillantes Buch und die dort gezeigte Zukunft regt zum Nachdenken an.

Schöne Neue Welt: Ein Roman der Zukunft (Fischer Klassik Plus)
Schöne Neue Welt: Ein Roman der Zukunft (Fischer Klassik Plus)von Aldous HuxleyFISCHER E-Books