Ein dunkler, fesselnder Roman mit hoffnungsvollen Momenten, die umso heller strahlen
Es ist Winter. Der Schnee fällt in dichten Flocken und Jana geht auf dem Weg zu ihrem Zwillingsbruder beinahe im Dorf ihrer Kindheit verloren. Glücklicherweise taucht John im Schneesturm auf, der Bewohner des abseits gelegenen, verlassen geglaubten Hauses. Er kennt Jana, aber sie kann sich nicht an ihn erinnern. Warum? Von Beginn an wirft Karin Smirnoffs Roman Fragen auf, die erst nach und nach beantwortet werden - während sich immer wieder neue Fragen auftun. Nahezu alle Figuren scheinen dunkle Geheimnisse mit sich herumzutragen. Wer ist Maria, die Frau, die so vielen Männern im Dorf etwas bedeutete und die von den Alten, die Jana als neue Mitarbeiterin eines Altenpflegedienstes betreut, verehrt wurde? Und warum musste sie sterben? In einem nordschwedischen Dorf, in dem immer alle alles zu wissen scheinen und Dinge nur selten erklärt werden, bleibt manches ungesagt. Manchmal ist man sich als Leser*in auch nicht sicher, ob eine Antwort wirklich stimmt, denn teilweise steht Aussage gegen Aussage - und nicht wenige Personen haben infolge ihrer Vergangenheit mehr oder minder destruktive Bewältigungsstrategien entwickelt, die sich auch auf ihre Psyche auswirken. Karin Smirnoffs Roman ist keine Feel-Good-Geschichte. Sie ist dunkel, voller Kälte und Gewalt. Es gab für mich beim Lesen immer wieder Momente, in denen ich aus dem Fenster schauen und tief durchatmen musste, um das Gelesene zu verarbeiteten. Gleichzeitig ist das Buch unheimlich fesselnd und faszinierend und in all der Kälte und Dunkelheit leuchten die hoffnungsvollen, warmen Momente umso schöner und heller. Die sprachlichen Mittel, die Smirnoff findet, um die Geschichte zu erzählen, machen das Buch ebenso zu etwas Besonderem. Durch Abweichungen von der schwedischen Orthographie und Interpunktion, sehr kurze und prägnante Sätze, Doppeldeutigkeiten („bror“ ist das schwedische Wort für Bruder und scheinbar auch der Name des Bruders) und wiederkehrende Motive fühlt es sich an, als würde man dem Bewusstsein der Ich-Erzählerin folgen. Ihre seelischen Wunden werden so greifbar. Ich gebe dem Buch volle 5 ⭐️ und freue mich auf die Fortsetzung…