
„Warum gab es nicht für jede Situation im Leben eine Gebrauchsanweisung?“
Jasmijn redet nicht - außer mit ihrer Hündin Senta und Elvis Presley. Schon am ersten Tag in der Kita kristallisiert sich heraus, dass für Jasmijn alltägliche Situationen zu einem Fluchtreflex führen. Alles ist zu laut, zu viel, zu unvorhersehbar. Sie ist einfach anders als all die anderen Kinder und versteht nicht, wieso für sie alles so viel anstrengender zu sein scheint. Nach und nach begleiten wir sie dabei, wie sie Strategien entwickelt, ihren Alltag zu meistern, versucht sich anzupassen und nicht aufzufallen. Bewusst wollte ich einen Roman über Autismus lesen, da ich mich aktuell immer wieder mit dem Thema beschäftigte. Die niederländische Autorin Judith Visser bekam als Erwachsene selbst die Diagnose. Dass sie aus eigener Erfahrung weiß, wovon sie schreibt, merkt man auf jeder Seite des Buches. So eindringlich und authentisch schafft sie es, dem Leser zu vermitteln, wie die Gedanken und Gefühle im Alltag mit Autismus aussehen können. Wie ein einfacher Shopping-Mall-Besuch zu absoluter Reizüberflutung führen kann. Wie ein kurzer Telefonanruf Erstarrung auslöst. Wie schwer es fallen kann, den Spagat zwischen ‚Nicht auffallen und sein wie alle anderen’ und ‚Für sich selbst und seine Bedürfnisse einstehen’ zu machen. Wirklich tolle Szenen. Leider hatte ich dabei manchmal das Gefühl, das die einzelnen Alltagsszenen nur aneinandergereiht waren und zwischen ihnen die Verbindung fehlte. Dadurch wurde der Roman zeitweise etwas langatmig. Zum Ende hin war ich aber wieder komplett emotional involviert und habe zuletzt nicht nur eine Träne verdrückt. Dieser Roman ist definitiv ein Buch der Sorte: Durchhalten lohnt sich. Judith Visser schafft Bewusstsein für eine Art der Wahrnehmung der Welt, die sich vom Großteil der Menschen unterscheidet, und zeigt auf, wie sich Autismus vor allem auch bei Frauen äußern kann. Denn häufig bleibt Autismus bei Frauen undiagnostiziert, weil er sich anders zeigen kann als bei Männern. Und die große Frage nach dem ‚Warum fühlt sich für mich alles so anders und viel schwerer an als für alle anderen?‘ bleibt dadurch unbeantwortet. Übersetzung aus dem niederländischen von Barbara Heller