„DU BRAUCHST LEGENDEN, UND ICH UNVOLLENDETE GEDICHTE“ Wie beschreibt man dieses ambivalente Lesevergnügen, das einem der Litauer Antanas Škėma mit seinem einzigen Roman „Das weiße Leintuch“ bereitet? Das stark autobiographisch gezeichnete Werk, das erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, nimmt uns in die Alltagswirklichkeit des Exilschriftstellers Antanas Garšva mit, die geprägt ist von seiner Arbeit als Liftboy eines New Yorker Hotels und ständigen dichterischen Neurosen. Eine oft wechselnde Perspektive zeigt uns den bereits 41-jährigen blonden, bleichen Mann von außen und ebenso folgen wir ihm in einem puren, existentialistisch-destruktiven ‚stream of consciousness‘, der alle Abgründe und Albträume des verzweifelten Antanas offenbart. Die Kulisse des perfekten Liftboys bröckelt umso mehr als die Liebe zur verheirateten Elena in ihm einen Flächenbrand auslöst. Erinnerungen an gewalttätige Traumata, seine gesamte Kindheit und Jugend in Litauen sind poetisch, aber auch naturalistisch – oft viel zu nah an aller Existenz und ihrer Grenzen. Es ist nicht immer leicht, dem Gedankenchaos des Protagonisten zu folgen. Mir gefiel alles Destruktive, das Antanas in sich spürt und dem er ungeschönt Ausdruck verleiht. So wunderbar Natur, Architektur, Kunst und Literatur auch scheinen mögen – jedes litauische Volkslied in seiner Sentimentalität verkehrt sich oft in einen grausigen Abzählreim, der im Wahn gesprochen wird. Beeindruckend und unbedingt lesenswert.
1. Sept. 2022
Das weiße Leintuchvon Antanas ŠkėmaGuggolz Verlag