Didier Eribon analysiert in seinem Essay „Eine Arbeiterin“ die sozialen Mechanismen, die das Leben seiner Mutter geprägt haben. Er zeigt, wie Klassenzugehörigkeit nicht nur ökonomische Bedingungen bestimmt, sondern auch Selbstbild, politische Haltung und soziale Bindungen. Besonders aufschlussreich fand ich, wie er das Altern seiner Mutter und seinen eigenen Umgang damit beschreibt. Ihr Körper, gezeichnet von jahrzehntelanger harter Arbeit, wird zum Symbol für die Last eines Lebens in prekären Verhältnissen. Die gesellschaftliche Unsichtbarkeit seiner Mutter, die Abhängigkeit von einem Sozialsystem, das nur das Nötigste gewährt – all das macht deutlich, wie wenig Aufstiegsgeschichten über strukturelle Realität hinwegtrösten können. Für mich ein präzises Buch über Klassismus, soziale Reproduktion, Klassenflucht und den Preis eines Lebens, das bis zum Schluss von prekärer Arbeit bestimmt wurde. Ich habe es gerne und mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit gelesen.
Eribon schreibt über seine verstorbene Mutter – eine französische Arbeiterin: zum einen biografisch, zum anderen nimmt er ihr Leben, v.a. aber ihr Altern und schließlich ihr Sterben zum Anlass, diese Themen soziologisch zu bearbeiten. Das gelingt ihm herausragend. Jede Seite war ein Genuss und zugleich erkenntnisreich und lesenswert geschrieben. Gerade auch die rein theoretischen Überlegungen im letzten Teil des Buches zur Frage, welche Rolle *die Alten* als soziale Gruppe in der politischen Theorie und Philosophie einnehmen (keine) und was daraus folgt, sind höchst spannend. Zudem möchte ich hier ausdrücklich die Hörfassung empfehlen. Ich habe selten jemanden ein Buch so eindrücklich lesen hören, wie es Ulrich Matthes hier getan hat.
Hach, Eribon. Bei diesem Buch wusste ich bei der Ankündigung schon, dass es fünf Sterne werden und es hat trotzdem alle Wünsche übertroffen.
Eine Auseinandersetzung mit dem Älterwerden in unserer Gesellschaft 👵
Vor einigen Jahren betrat die Mutter von Didier Eribon ein Pflegeheim. Nach mehreren Monaten, in denen sie allmählich ihre körperliche und kognitive Autonomie verlor, mussten sich Didier Eribon und seine Brüder entschließen, sie trotz ihrer Zurückhaltung in einer medizinischen Einrichtung unterzubringen. Aber der Schock des Übertritts ins Pflegeheim war zu brutal, und nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft starb sie dort. Nach dem Tod seiner Mutter nimmt Didier Eribon die persönliche und theoretische Erkundungsarbeit wieder auf, die er nach dem Tod seines Vaters in Retour à Reims unternommen hatte. Er analysiert den Niedergang seiner Mutter, was sie dazu bringt, über Alter und Krankheit nachzudenken, über unsere Beziehungen zu älteren Menschen und zum Tod, aber auch über die Erfahrung des Alterns. Er hinterfragt auch die Bedingungen für die Aufnahme von Pflegebedürftigen. Es zeigt, dass die Erfahrung des Alterns für uns schwer vorstellbar ist, weil es sich um eine Grenzerfahrung in der westlichen Philosophie handelt, deren Gesamtheit der Konzepte auf einem Ausschluss vom Alter zu beruhen scheint. Eribon erzählt auch das Leben seiner Mutter, insbesondere die Zeiten, in denen sie Haushälterin, Arbeiterin und dann Rentnerin war, und sie in all ihrer Komplexität erfasste, von ihrer Teilnahme an Streiks bis zu ihrem obsessiven Rassismus. Er beendet diesen Part, indem er das Alter zum Stützpunkt einer Reflexion über die Politik macht: Wie könnten sich Menschen mobilisieren, die weder Mobilität noch die Fähigkeit mehr haben, zu sprechen und damit „wir“ zu sagen? Können ältere Menschen sprechen, wenn niemand für sie spricht, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen? Didier Eribon mischt erneut persönliches Zeugnis – über das Leben seiner Mutter und ihre Beziehung zu ihr – mit philosophischer und politischer Analyse über das Alter, den Tod und ihren Platz in der Gesellschaft. Es ist eine Mischung, die mir in „Rückkehr nach Reims“ sehr gut gefallen hat, und die hier wieder sehr gut funktioniert. Es gibt viele sehr starke Passagen, in denen Didier Eribon über seine Mutter und ihre Beziehung spricht, ich habe mich dort teilweise wiedererkannt. Die letzten Kapitel, wenn Eribon in philosophische Überlegungen abschweift, haben mich vielleicht weniger tangiert, aber das ändert nichts an der Qualität dieses Buches.
Sein wohl bekanntestes Werk „Rückkehr nach Reims“ habe ich förmlich eingeatmet. Nun präsentiert Didier Eribon sein neuestes Buch „Eine Arbeiterin“, das mich mindestens ebenso überzeugt hat. Darin untersucht Eribon detailliert das Leben, Altern und Sterben seiner eigenen Mutter.
Sein wohl bekanntestes Werk „Rückkehr nach Reims“ habe ich förmlich eingeatmet. Nun präsentiert Didier Eribon sein neuestes Buch „Eine Arbeiterin“, das mich mindestens ebenso überzeugt hat. Darin untersucht Eribon detailliert das Leben, Altern und Sterben seiner eigenen Mutter. Eribon gelingt es dabei auf bemerkenswert feinfühlige Weise, seine Mutter nicht lediglich als Opfer sozialer Ungleichheitsmechanismen und einer altersfeindlichen Gesellschaft darzustellen. Vielmehr zeichnet er sie als ebenso handlungsfähige Person, insbesondere im Hinblick auf ihr spätes Liebesleben und ihren Protest im und gegen das Pflegeheim. Zugleich übt er scharfe Kritik an sich selbst und anderen Söhnen, die ihren Müttern möglicherweise nicht die ihnen zustehende Aufmerksamkeit gewidmet haben. Im letzten Teil seines Buches kritisiert Eribon gewohnt soziologisch-analytisch eine oft übersehene Leerstelle in den meisten politischen Theorien sozialer Ungleichheit: die Ausklammerung der Perspektive alter Menschen. Eribon fokussiert sich dabei nicht auf machtinnehabende alte weiße Männer oder gewerkschaftlich organisierte Rentner*innen-Bewegungen. Vielmehr richtet er seinen Blick auf die Randgruppe der pflegebedürftigen und immobilen Menschen, die isoliert in totalen Institutionen wie Pflegeeinrichtungen untergebracht sind und keinen Teil einer Gemeinschaft mehr bilden – diejenigen, die buchstäblich nicht mehr für sich selbst sprechen können, wie seine Mutter. Eribon stellt dabei die zentralen Fragen von Solidarität und Fürsorge: Was passiert, wenn eine soziale Gruppe und Bewegung, ein kollektives „Wir“, gar nicht (mehr) existieren kann? Müssen wir als Autor*innen, Künstler*innen und Intellektuelle dann für diese Menschen sprechen? Was bedeutet es, für eine Gruppe von Menschen zu sprechen, die schweigen würde, wenn man nicht für sie sprechen würde? Für junge Menschen mag das Thema Alter nicht vorrangig erscheinen. Doch „Eine Arbeiterin“ hat mich dazu gebracht meinen Blick auf alte, pflegebedürftige Menschen zu überprüfen und auch mein eigenes Verhalten als Sohn gegenüber meiner eigenen, alten Mutter neu zu bewerten.
Ein wichtiges Buch! Didier Eribon gibt wichtige Einblicke in die politisch-sozialen Brennpunkte in Altersheimen und widmet sich philosophisch der Thematik altern und sterben . 👌
„Es ist ein ehernes Gesetz der menschlichen Existenz, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann. Sie ist, was sie ist. Höchstens kann man, ausgehend von der Gegenwart, der Vergangenheit eine neue Bedeutung geben, in dem man sein Ich auf die Zukunft projiziert…“ (Seite 194) Eribon schreibt, wie Eribon eben schreibt, als Sohn der Arbeiterklasse, der den Aufstieg ins Bürgertum schaffte und sich dabei von seiner Familie entgrenzen musste. Diese Abgrenzung bringt ihm nach dem Tod der Mutter in einem Altenheim aber zu der tiefgründigen Analyse, warum es dringend notwendig ist, den „Alten“ eine Stimme zu verleihen und wenn sie selber nicht mehr in der Lage sind, für sie die Stimme zu erheben. „Die Arbeiterin“ ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Leben von Eribons Mutter, sondern auch ein kleiner „Deepdive“ in die soziologische Betrachtungsweise des Älterwerden und des Sterben. „Vladimir Jankélévitch hat gern folgendes lateinische Sprichwort zitiert: Mors certa, hora incerta, der Tod ist gewiss, der Zeitpunkt ungewiss.“ (Seite 49)
„Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ von Didier Eribon hat bei mir mit mehrfacher Wucht gewirkt. Seine Schilderung der körperlichen und geistigen Veränderungen, die Einweisung in Krankenhäuser, der unabwendbare Umzug seiner Mutter ins Pflegeheim und schließlich ihr Tod trafen auf meine eigenen Erfahrungen damit bei meinen Eltern. Dass es sich dabei nicht nur um persönliche und damit private Schicksale handelt sondern gesellschaftlich und politisch aus beispielsweise finanziellen Gründen so gewollt ist bzw. aus finanziellen Gründen nicht genug unternommen wird, etwas daran zu ändern, arbeitet Eribon in seiner soziologischen, philosophischen und politischen Analyse heraus. Da wir alle selbst irgendwann diese Alten sein werden und Eltern haben oder hatten, die in die Pflegeheime geraten werden oder sind oder waren, sollten wir uns beizeiten oder auch nachträglich bewusst machen, was da auf uns und die Alten in unseren Familien zukommt oder bereits ereilt hat. Ohne dass sich die Teile der Gesellschaft, die noch jung genug sind, gegen das bestehende System der Pflegeeinrichtungen massiv zur Wehr setzen, wird sich vermutlich jedoch nichts ändern.
Eribon schafft hier die Gratwanderung zwischen liebevollem Respekt und der nüchternen Betrachtung des Lebens und Sterbens der eigenen Mutter.
Eigentlich handelt es sich nicht um ein Werk, sondern mindestens um zwei. Während die ersten beiden Kapitel das Leben und den Tod im Fokus haben, die Gewalt des Pflegesystems, die Herausforderungen im Umgang mit den eigenen Eltern im Altern, handelt das zweite Werk in Kapitel 3 und 4 stärker von familiären Bindungen, dem Umgang mit dem Vater und den eigenen Geschwistern, das eigene Ausbrechen aus der Arbeiter*innenklasse. Dabei klingt Trauer durch, aber kein Bedauern. Eribon schafft es immer wieder die eigenen (teils intimen) Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen und dabei auch Kritik auszusprechen. Eine Auseinandersetzung mit dem schleichenden Abschied aus dem Leben - eine echte Empfehlung!