
"Fremder, wer immer du bist, öffne dies und siehe, was dich erstaunen wird." Das, was ich mitunter an Büchern am meisten liebe, ist die unwiderrufliche Tatsache, dass sie mich immer wieder überraschen können. Manchmal denkt man, man hätte eine Geschichte durchschaut, wüsste, worum es geht, dachte, man wüsste Bescheid. Und hat doch nicht die geringste Ahnung, auf was für ein Abenteuer man sich da gerade einlässt. Und dann gibt es Bücher, da hat man überhaupt keine Ahnung, worum es geht. Man adoptiert sie, da der Inhalt so vielversprechend klang und der Autor sowieso ein Garant für gute Geschichten ist, dann stehen sie- wie ich zu meiner Schande gestehe- viel zu lange im Regal, landen aus einer Intuition heraus im Koffer, begleiten dich und werden wohl mitunter eines deiner wichtigsten Begleiter. An diesem Strand steht ein neues Lieblingsbuch. Denn "Wolkenkuckucksland" von Anthony Doerr ist nicht nur eine der wohl schönsten Romantitel, die es gibt, sondern auch eines der wohl wunderbarsten und kraftvollsten Bücher über die Macht von Geschichten und eines der Bücher mit dem ungewöhnlichsten und vielschichtigsten Plot, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Zu viele Superlative? Nein, definitiv nicht, denn "Wolkenkuckucksland" ist eines dieser Bücher, das sich zwar langsam aber unaufhaltsam in dein Herz schleicht und dort bleiben wird. In Anthony Doerrs Roman begleiten wir Kinder auf der Schwelle zum Erwachsen werden, die sich in zu jeweils unterschiedlichen Zeiten in zerbrechenden Welten befinden und das sind wirklich unterschiedliche Zeiten, denn Anna und Omeir befinden sich zwischen 1439-1452 bei der Belagerung Konstantinopels, während Seymour 2020 bei einem von ihm selbst ausgeübten Anschlag auf eine Bibliothek verortet wird. Konstance dagegen befindet sich in der Zukunft an Bord der 'Argos' auf dem Weg zu einem Exoplaneten. Natürlich erzählen zahlreiche Handlungsstränge, wie dir Protagonist:innen in ihre Lage gekommen sind und vor allem, warum nur eine bloß in Fragmenten erhaltene Geschichte aus einem antiken Roman über eine Utopie in den Wolken sie alle über so große Zeiten und Räume auf geheimnisvolle Weise miteinander verbindet. Man hat nicht nur einmal das Gefühl, das Anthony Doerr während des Schreibens mit Sideboards und Mind Maps gearbeitet haben muss, denn diese Verflechtungen der einzelnen Handlungsstränge waren mehr als nur ein Meisterstück. Und doch verliert Doerr bei der Grandiosität seines Erzählens doch das Liebevolle in seiner Geschichte nicht aus dem Blick, das worum es geht, dass Geschichten uns alle verbinden, egal, wer wir sind, wo wir sind und was wir machen. Und das ist eine so großartige Botschaft, die aus "Wolkenkuckucksland" herausleuchtet, das allein schon diese eine eigene Parade verdient hätte. Ansonsten bleibt uns aber dieses wunderschöne Buch, das wir feiern können. Ein Buch über das Geschichten erzählen, über menschliche Verbindungen und eines, das ich nicht mehr so schnell vergessen werde. "Ich weiß, warum die beiden Bibliothekarinnen dir die alten Geschichten vorgelesen haben", sagt Rex. "Weil du, wenn sie gut genug vorgelesen werden, allem entkommst, solange die Geschichte anhält". S.170