Gerechtigkeit, die menschlich wird
„Schuld“ ist ein besonderes Buch, mit großer Wucht und dabei nüchterner Herangehensweise! Ferdinand von Schirarch schreibt über juristische Fälle aus seiner eigenen Berufslaufbahn und behält dabei einen nüchternen, präzisen, beinahe distanzierten Charakter bei, wie er wohl in der Juristik gängig und nötig ist. Und doch findet sich in dieser Nüchternheit eine tief versteckte Emotionalität wieder, die mich vollkommen überrascht hat. Denn was Schirach zeigt, ist nicht Schuld im klassischen Sinne. Er zeigt Menschen, gescheiterte, gebrochene, verlorene. Menschen, bei denen ein einzelner Moment ausgereicht hat, um ein ganzes Leben aus der Bahn zu werfen. Und obwohl er nie urteilt oder vielleicht gerade deshalb, bleibt man als Leser/Leserin mit einem Kloß im Hals zurück. Schirarch schreibt nie mehr als nötig, hat keine geschönten Formulierungen, kein moralisches Fingerheigen und damit die bewegende, fast schon schmerzhafte Ehrlichkeeit in seinen Darstellungen. Er beobachtet. Und genau das macht seine Texte so tief. Weil er uns zwingt, selbst hinzusehen und zu fragen: Was hätte ich getan? Was ist richtig? Was ist gerecht? So werden wir als Leser/Leserinnen stetig in die Pflicht genommen, nach Recht und Moral zu bewerten, aber können es nicht, da sich viele der Fälle in Dilemmata auflösen und wir ratlos zurückgelassen werden. Eine besondere Stärke des Buches liegt in seiner literarischen Struktur. Jeder Fall ist wie ein stilles Echo: kurz, reduziert, aber mit Nachklang. Schirach beherrscht die Kunst des Weglassens. Was nicht geschrieben steht, wirkt oft stärker als das, was gesagt wird. Und gerade dadurch bekommen die Geschichten eine universelle, beinahe philosophische Dimension. Es geht nicht nur um Schuld im juristischen Sinne, sondern um Schuld als Zustand des Menschseins. Ferdinand von Schirarchs „Schuld“ ist ein forderndes Buch, das weniger erzählt, als dass es zum Nachdenken zwingt. Seine Ehrlichkeit ist unbestechlich, seine Menschlichkeit tief verborgen und gerade dadurch umso eindrücklicher. Eine weitere Qualität des Buches ist seine Zeitlosigkeit: Jede Geschichte könnte gestern passiert sein. Oder morgen. Und vielleicht macht genau das „Schuld“ so beklemmend relevant.