Den Abschluss meines Lesejahres bildet last but not least: „Zeitpfade“ von Anne Michaels. Ein Roman, der Schicksale verschiedener Generationen kunstvoll verwebt und in Erinnerungen aufleben lässt in gleichsam mysteriöser Schönheit und einer poetischen Sprache. „Zeitpfade“ folgt keine natürlichen chronologischen Reihenfolge, sondern beginnt in der Mitte, denn wie im wahren Leben, beginnt alles immer wieder von vorne. Aber wie ist das nun zu verstehen?! Anne Michaels nimmt uns mit auf eine Reise durch Raum und Zeit - fragmentarisch erzählt sie von einer Familensaga, die ein ganzes Jahrhundert umfasst. Sie demonstriert, wie alle Rädchen der Zeit miteinander verbunden sind: Ein verträumter Blick in die Nacht, in Erinnerung schwelgend an seine Liebe wandern die Gedanken des Protagonisten durch alle Zeiten. Er denkt an seine Urenkelin, die heute als Ärztin ohne Grenzen unterwegs ist, auch wissenschaftliche Größen wie Marie Curie und Lagrange ploppen auf in seinen Streifzügen durch Vergangenes und Gegenwärtiges. Ganze vier Generationen durchschweifen wir in „Zeitpfade“ - von 1908 bis 2025. Michaels entledigt sich dabei von allen formalen Grenzen: Ist es nun eine Erzählung, philosophische Reflexion oder eher ein Essay?! Es ist alles davon und nichts. In zwölf Kapiteln führt sie uns durch Prosapassagen, die durch Leerzeilen voneinander getrennt sind - sie entschleunigt damit Erzähltes und verleiht Gelesenem damit die nötige Ruhe, gar Langsamkeit und Ausdruckskraft. Thematisch beschäftigt sie sich mit den großen Fragen unseres Lebens, wie Trauer, Vergänglichkeit, Liebe und Tod. Aber auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Naturwissenschaften verarbeitet sie und regt zum Grübeln über deren Grenzen und Schönheit an. Dabei geht es um Fotografie, die Entdeckung der Röntgenstrahlen, ebenso wie um Darwins Evolutionstheorie. Ganze 14 Jahre hat Anne Michaels an diesem Buch geschrieben und Spoiler: Es hat sich gelohnt! Ich habe bisher nichts vergleichbares gelesen. Sie springt mit uns in Prosastücken durch die „Zeitpfade“, die aber am Ende doch alle das gleiche Ziel haben: Das Wesen des Lebens einzufangen.