…tauchen wir in das Leben der Meeresbiologin Luise und ihrem Forschungsobjekt, der Meerwalnuss. Die Frau und die Rippenqualle haben auf den ersten und zweiten Blick einiges gemeinsam - sie wirken sonderbar, manchmal vielleicht beängstigend, werden jedoch wohl auch missverstanden.
Als Luise in ihre Heimatstadt Graz zurückkehrt, um dort beim Aufbau eines Forschungszentrums zu helfen, verliert sich die Wissenschaftlerin in schmerzhaften Kindheitserinnerungen, die nun als Wellen über ihr zusammenschlagen. Deutlich wird dies in dem sprachlich stark umgesetzten Konflikt mit Luises Familie, insbesondere ihrem Vater. Die Narben der Vergangenheit scheinen wieder aufzureißen, die Realität spült Salz in die Wunde und so strudeln wir zusammen mit Marie immer weiter in die Tiefe, die Dunkelheit, das Unbekannte am Grund. Und dort ist es teils auch ziemlich dunkel.
Marie Gamillscheg hat sprachlich absolut Beeindruckendes geleistet, denn allein durch die sprachliche Gestaltung von Luises Gedanken- und Gefühlswelt kann man so viel über den mentalen Zustand der Frau ableiten. Die fragmentarischen und teils wirren Episoden haben somit eine absolut nachvollziehbare Funktion - in Kombination mit dem Plot hat mich der Text im letzten Drittel jedoch abschnittsweise etwas verloren.
Allerdings glaube ich, dass sich im Gespräch über den Roman oder bei einer erneuten Lektüre sicher viele spannende Beobachtungen machen lassen - sowohl zu Mensch als auch Tier.
Das ist ein Buch, das man erst Mal sacken lassen muss
Luise ist Meeresbiologin, forscht an der Meerwalnuss, einer seltenen Quallenart, und kommt, nachdem sie in der ganzen Welt gewohnt, aber nicht gelebt hat, für eine neue Stelle nach Graz, in ihre Heimatstadt zurück. Dabei wohnt sie in der leeren Wohnung ihres Vaters. Soviel zur Rahmenhandlung.
Während Luise zwischen dem Grazer Zoo und der "Vaterwohnung" hin und herpendelt, erfährt man in Rückblenden von Luises Kindheit und Jugend, der Scheidung der Eltern, der schwierigen Beziehung zu beiden, Luises Essstörung, den Versuchen, irgendwie Halt in diesem Leben zu finden. Die Geschichte ist in einem Recht lyrischen, sperrigen, aber auch wortgewaltigen Sprachstil geschrieben. Manchmal weiß man nicht, ob Luise gerade träumt oder die Dinge wirklich passieren, die gerade beschrieben werden, beides liegt sehr nah beieinander.
Marie Gamillschegs Roman ist anstrengend zu lesen, da so viel in teilweise nur wenigen Wörtern steckt, man spürt Luises Schmerz die ganze Zeit, es rührt auf. Der Aufruhr findet in Luise, aber auch der/m Leser:in statt.
Das Buch ist kein Page Turner, wird bei mir aber noch lange nachhallen, vielleicht lese ich es noch Mal, um diese ganz besonderen Stellen zu bemerken. Auf jeden Fall ein großartig gewählter Titel und ein ganz besonderer Schreibstil.
Sprachlich ist das Buch ganz besonders. Die Informationen über die Meerwalnuss fand ich recht interessant.
Man befindet sich meistens im Kopf der Protagonistin und da habe ich mich nicht so gut zurechtgefunden. Die Gedanken und Erinnerungen haben oft so schnell gewechselt, dass mir manchmal nicht klar war, ob das gerade Gegenwart oder Vergangenheit ist.
Der Autorin ist hier ein Roman gelungen, der im allerbesten Sinne unbequem und sperrig ist, dann wieder lyrisch und atmosphärisch – aber nie vorhersehbar, niemals Einheitsbrei. Er wirft einen Stein in den See deiner Gedanken, und du schaust dann den Kreisen zu, die sich organisch bilden.
Diese gewaltsame Gegenwart von Worten
Das ist ein Roman, der mir im Kopf rumgeht. Rund und rund und rund. Denn vieles, vieles wird offengelassen; du kannst als Leser:in nur den Ahnungen hinterherspüren, die durch Träume, Erinnerungen, Ängste, Wünsche, Obsessionen schweben wie Plankton. In einem Moment ist die Wahrheit da, fast schon greifbar – und dann verwirbeln sich die Gewässer dieses Lebens, bis die Wahrheit sich nur noch in Ultraspurenelementen findet, allenfalls ein leichter bitterer Geschmack.
Ach, was rede ich da.
Kurz gesagt: Ich habe noch nicht abgeschlossen mit diesem Buch, will Luise, die eigenwillige Protagonistin, noch nicht ziehen lassen. Ich will sie in Scheiben schneiden und auf dem Objektträger eines Mikroskops studieren. Ich will mich als invasive Art in ihren Gedanken einnisten.
Warum? Warum hat Luise ihre Forschung einer Qualle verschrieben, die als invasiv gilt, als schädlich, geradezu als Vorbote der ökologischen Apokalypse? Sie frisst ihre Kinder, heißt es, doch Luise stellt klar: Die Quallen fressen sich gegenseitig – nur der Schwarm zählt, nur in der kompletten Auflösung im Kollektiv ist der Tod des einzelnen bedeutungslos.
Luise träumt von diesem Leben im Schwarm, von der Auflösung der individuellen Form. Da kann man Parallelen ziehen zu ihrer Essstörung, zu ihrer Angst vor dem Tod, zu ihrem Wunsch, vollends zu verschwinden. Für Luise existiert scheinbar nichts zwischen Selbstaufgabe und totaler Einsamkeit. In meinen Augen geht es um Körperlichkeit, um Körperbewusstsein, aber auch um Identität und Individualität darüber hinaus.
»Sie war hier nur ein Kind ohne Sprache.«
Diese Themen verweben sich mit Luises gestörter Beziehung zu ihrer Familie, vor allem dem Vater. Die Kommunikation ist geradezu absurd unzuverlässig, denn in den trüben Gewässern lauert das nie Gesagte – here there be monsters. Du kannst sie als Leser:in nur erahnen, sie bleiben nebelhaft unbestimmt. Sie werfen ihre Schatten in Luises Träume, wo sie sich als Szenen mit seltsam inzestuösen Unterton manifestieren. Wie wörtlich muss man diese nehmen? Geht es wirklich um etwas Sexuelles, potentiell Traumatisches – oder um Luises Wunsch, im Vater-Tochter-Verhältnis Nähe herzustellen, aber nicht die Machtlose zu sein?
»Sie wusste nicht, wie man Verantwortung übernahm, ohne zu verzeihen. Sie wusste nicht, wie man verzieh, ohne zu vergessen. Sie wusste nicht, wie man vergaß, ohne zu töten. Die Sache mit dem Tod war die: Immer, wenn sie an seinen Tod dachte, wusste sie am schmerzlichsten, dass sie ihn liebte. In Liebe dachte sie an seinen Tod. Schlimmer war nur der Gedanke an die Zeit davor.«
(ZITAT)
Dies ist auch ein Buch über die Klimakatastrophe, das unbedingt. Über die Art, wie der Mensch sich als Maßstab aller Dinge sieht, das auch. Aber für mich steht Luises gestörtes Verhältnis zur Welt und zu sich selbst im Zentrum von allem. Viel wird nur angedeutet, und du als Leser:in bekommst es genauso wenig zu fassen wie einen einzelnen Tropfen Gift im weiten stürmischen Meer. Wir sehen den Sturm, also die Auswirkungen im Leben der Protagonistin, aber nicht das Gift, die konkrete Verletzung, die dahintersteht.
Es sind so viele, viele Tropfen Gift, dass du irgendwann sagen kannst: »Ja, dies ist ein giftiges Meer!«, auch wenn du den einzelnen Tropfen nicht mehr ausmachen kannst. Dadurch bietet der Roman auch viel Projektionsfläche. Ich denke, hier können sich Menschen mit Essstörungen genauso wiederfinden wie Menschen mit gestörten Eltern-Kind-Beziehungen oder Menschen mit Angststörungen. (Ach, 'Störung' ist ein so unangenehmes Wort, wenn es um Menschen geht, es ist so objektifizierend …)
In diesem Roman kann man sich verirren, doch das Verirren lohnt sich. Lass los, lass dich treiben. Erwarte nichts und nimm das Unerwartete an, dann kannst du einen wirklich außergewöhnlichen Roman entdecken. Denn je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bezaubert er mich, desto mehr verstört er mich, desto mehr möchte ich darin ertrinken und darin aufgehen. Diese offene Form, dieses Nicht-Erklären vieler Dinge, das muss wahrscheinlich genau so sein und nicht anders, um die Themen nicht im Keim zu ersticken.
Di:er Leser:in muss nicht immer alles verstehen – das ist nicht die Aufgabe eines Romans. Und dieser hier ist auf jeden Fall etwas ganz Eigenes, Außergewöhnliches. Er wirft einen Stein in den See deiner Gedanken, und du schaust dann den Kreisen zu, die sich organisch bilden. Und so soll es doch sein, das ist die Aufgabe eines Romans.
Man möge mir daher verzeihen, dass ich in meiner Rezension nicht minder undeutlich geblieben bin. Mir ging es nicht um eine Analyse, sondern darum, wenigstens einen Hauch der Essenz des Buches einzufangen, um neugierig zu machen, ohne zu viel zu verraten.
»Ein Kind, das ins Wasser ging. Die Geräusche der Küste, die Streitigkeiten der Eltern, vom Wasser aus nur dumpfe Wirklichkeitsschläge fernab. In einer Welle traf sie auf einen Schwarm Feuerquallen. Die zartroten Körper wie ausladende Hüttendächer, unter denen man Schutz vor dunklen Stunden fand.«
(ZITAT)
Der Schreibstil, das sei abschließend noch gesagt, hat etwas Magisches, Traumhaftes. Da ist eine Leichtigkeit, die selbst in Momenten des Konflikts oder der Angst nie ganz verloren geht. Alles schwebt und fließt, ist gefühlt immer in Bewegung. Gegen Ende des Romans wirken Luises Gedanken dann zunehmend zusammenhangslos, bestimmt von einer Art Traumlogik; die Sprache gewinnt eine hypnotische Qualität – das Ende ist konsequent offen.
Marie Gamillscheg ist hier ein Roman gelungen, der im allerbesten Sinne kratzt und sticht und schmerzt. Er ist oft unbequem und sperrig, dann wieder lyrisch und atmosphärisch, aber nie vorhersehbar, niemals Einheitsbrei.