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⭐️⭐️⭐️⭐️(⭐️)

Wenn man dieses Buch liest, sollte man schwindelfrei sein...
Bewertung:4.5

⭐️⭐️⭐️⭐️(⭐️) Wenn man dieses Buch liest, sollte man schwindelfrei sein...

In den 1930er Jahren hat der Fotograf Lewis Hine Bilder vom Bau des Empire State Buildings veröffentlicht. Und wer kennt heutzutage nicht das ikonische Foto mehrerer Arbeiter, die hoch über der Stadt New York ungesichert auf einem Stahlträger sitzen? Das sieht zugegebenermaßen spektakulär aus - doch wie musste es sich anfühlen, permanent in einer solchen Höhe schwere körperliche Arbeit zu verrichten und an jedem Arbeitstag sein Leben aufs Spiel zu setzen? Gemma Tizzard fängt dieses Gefühl in ihrem Roman „Hier oben sind wir unendlich“ ein. Und auch wenn der Titel einen Hauch von Freiheit und Abenteuer vermittelt - der Ton des Buches ist deutlich ernster als ich das anhand des Covers und des Titels erwartet hätte. Und hat mich insofern positiv überrascht, denn es war eben nicht nur eine locker-leichte historische Liebesgeschichte hoch über den Dächern der Stadt, sondern vorrangig der Bericht über die Lebensumstände der Arbeiterklasse kurz nach dem großen Börsencrash von 1929. Und die sahen alles andere als rosig aus. Man kann sich natürlich darüber streiten, wie realitätsnah oder -fern es ist, dass sich die Zwillingsschwester eines irisch-stämmigen Stahlarbeiters als dieser Bruder ausgibt und seinen Job ausübt. Hier habe ich anfangs beim Plot schon ein kleines Auge zudrücken müssen, um die Geschichte so anzunehmen, wie sie konstruiert ist. Allerdings hat die Schilderung der harten Arbeitsumstände auf der Baustelle des Empire State Building schon einen sehr authentischen Eindruck auf mich gemacht und zeugte von guter Recherchearbeit (im Nachwort wird auch auf mehrere Bücher hingewiesen, aus denen die Autorin ihr Wissen gezogen hat). Ich selbst hatte zeitweise ein wenig Probleme, mir die Situation, die Arbeitsabläufe und das tatsächliche Umfeld auf der Baustelle bildlich vorzustellen. Wenn da von schmalen Balken in 100 m Höhe die Rede war und einer Stahlkonstruktion, auf der Vierergruppen von Arbeitern in bestimmten Arbeitsabläufen beschäftigt waren, überforderte das zeitweise meine konkrete Vorstellungskraft. Hier hätte es mir sehr geholfen, wenn ein paar der Fotos von Lewis Hine abgedruckt gewesen wären, damit man sich ein besseres Bild machen kann. Aber vielleicht war das auch ein lizenzrechtliches Problem. Ich habe das dann einfach parallel im Internet recherchiert und einige Artikel zum Bau des Empire State Building gelesen sowie Fotos angeschaut. Das Buch vermittelt aber insgesamt einen guten Eindruck vom Leben und Streben der „einfachen“ Leute im New York der 1930er Jahre. Die Figuren fand ich größtenteils gelungen dargestellt, allen voran die italienische Familie Gagliardi, die sich mit ihrer Lebenslust und ihrem Hang zu kulinarischen Genüssen und großen Familienessen nie unterkriegen lässt, egal wie misslich die Umstände sind. Insbesondere Grace’s Besuch bei den Gagliardis zum Abendessen war eine Szene, die ich rundum gelungen fand und die das Lebensgefühl der italienischen „Sippe“ wunderbar eingefangen hat. Fazit: Auch wenn mich die Ausgangssituation des Plots noch nicht überzeugen konnte, hat sich die Geschichte schließlich doch in mein Herz geschlichen, weil sie eine so ungewöhnliche und wenig beschriebene Thematik hat und für mich zumindest in den Beschreibungen des Alltagslebens sehr authentisch rüberkam. Alles in allem ist es vorrangig Unterhaltung und so leicht liest sich das Buch dann auch - neben entspannender Feierabendlektüre hat man hier dennoch das Gefühl, seinen Horizont zu erweitern. Eine positive Leseüberraschung, für die ich gern 4,5 Sterne gebe.

Hier oben sind wir unendlich
Hier oben sind wir unendlichvon Gemma TizzardFISCHER Taschenbuch
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Bewertung:4

Über den Dächern von NY „Connie wird sterben, wenn du nicht für mich einspringst.“ (S. 70) NY 1930: Grace O’Connell ist Tänzerin in einem Club, ihr Zwillingsbruder Patrick arbeitet beim Bau des Empire State Buildings. Als Grace ihren Job verliert, sorgt sich ihre Mutter, dass sie sich die Medikamente für Grace‘ jüngere Schwester Connie, die Lungenprobleme hat, bald nicht mehr leisten können. Dann bricht sich Patrick während der Arbeit den Arm, damit fällt das letzte Einkommen der Familie weg – und das seiner Kollegen. Denn Patrick gehört zu einem festen Team aus vier Leuten, die die Stahlträger (das Grundgerüst) des Gebäudes mit glühende Nieten verbinden. Sie sind perfekt aufeinander eingespielt. Wenn einer ausfällt, verlieren alle ihren Job. Sie haben also keine andere Wahl, als Grace als Patrick auszugeben. Durch den Tanz- und Ballettunterricht in ihrer Jugend und ihrer Arbeit am Trapez in einem Zirkus hat Grace ein sehr gutes Körpergefühl, trotzdem ist sie nicht auf die Arbeit in dieser luftigen Höhe auf den Stahlträgern vorbereitet. Sie muss sich jeden Tag neu überwinden und ihren Ängsten stellen, ist sich stets der Gefahr bewusst und muss ihre Ängste niederringen. Wer kennt nicht das Schwarzweißfoto mit den Männern, die auf einem Stahlträger Mittagspause machen. Diese Momentaufnahme gibt den extrem gefährlichen Alltag der Arbeiter perfekt wieder. In schwindelerregenden Höhen balancieren sie über die Träger, hangeln an Stahlseilen oder sitzen auf den Kugelgewichten unten an den Kränen. Alles ohne irgendeine Absicherung. Jede Bewegung muss genau überlegt sein, jeder falsche Schritt könnte der letzte sein. Gemma Tizzard kann dieses Gefühl extrem gut transportieren und die LeserInnen mitfiebern und mitfühlen lassen. Sie erzählt vom harten Leben der Einwanderer, die oft große Familien, aber nur kleine Einkommen haben und bei denen schon die Kinder mitarbeiten müssen, anstatt eine Schule zu besuchen. Grace‘ Familie ist relativ privilegiert. Sie haben eine 5-Zimmer-Wohung mit einem eigenen Bad und Kühlschrank, arbeiten aber hart, um sich die Miete und Connies Medikamente leisten zu können. Da es weder eine Krankenversicherung noch Krankengeld gab, musste alles selbst bezahlt werden. Mein Fazit: Ein spannender Roman über das Leben der Einwanderer in NY in den 1930ern und den Bau des Empire State Buildings aus dem Blickwinkel einer Frau.

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Hier oben sind wir unendlichvon Gemma TizzardFISCHER Taschenbuch