Als ich hörte dass Robert Menasse mit "Die Hauptstadt" den deutschen Buchpreis gewonnen hat, war ich erst etwas skeptisch. Aber natürlich wollte ich das Buch dennoch lesen und ihm eine Chance geben. Und während ich mit dem Werk seiner Halbschwester Eva Menasse, die mit "Tiere für Anfänger" den Österreichischen Buchpreis gewonnen hat, überhaupt nicht klar kam, so war ich überrascht, wie gerne ich "Die Hauptstadt" las. Zwar hat das Buch zwischenzeitliche Hänger, aber ich war trotzdem immer mit von der Partie und freute mich jedes Mal darauf, weiterzulesen. Der Beginn der Geschichte ist aussergewöhnlich, fast schon lustig, und zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Menasse verbindet in "Die Hauptstadt" die Vergangenheit, die Gegenwart und, wer weiss, vielleicht auch die Zukunft. Wir treffen auf mehrere unterschiedliche Charaktere aus ganz Europa, die alle lose miteinander verbunden sind; und sei es nur durch das Schwein aus der Eingangsszene. Leider fiel es mir teilweise schwer, die Figuren auseinanderzuhalten, aber nach ein paar Sätzen in den jeweiligen Kapiteln ergab sich das. An manchen Stellen liest sich das Buch wie ein Krimi, dann wieder wie ein historischer Roman, dann wieder wie eine Charakterstudie - je nachdem, welche Figur gerade "an der Reihe" ist. Menasse beschäftigt sich in seinem Buch auf eine aktuelle Art und Weise mit den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges und dem heutigen Umgang mit der Vergangenheit. Auch hier spannt der Autor wieder Fäden quer durch Europa - dieses Verknüpfen von Schicksalen und deren Zusammenführung an einem wichtigen Punkt der EU war wohl zentrales Kriterium dafür, dass Menasse den Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Mir persönlich gefiel auch der Einblick in die Bürokratie Brüssels als Hauptstadt der EU. Als Schweizer habe ich dazu wahrscheinlich eine andere Verbindung als Bürger von EU-Staaten, aber nichtsdestotrotz ist es enorm faszinierend, zu erfahren, wie dort was entschieden wird. Oder eben nicht entschieden wird. Für mich persönlich war dieses Setting ein erstmaliges Erlebnis und Menasse zeigt, dass es funktionieren kann, einen solchen Riesenbetrieb aus der Innenperspektive zu schildern. Eine ungewöhnliche Lektüre mit vielen Bezugspunkten, von der wohl am meisten das Schwein vom Anfang in Erinnerung bleiben wird.
Die ersten etwa 150 Seiten hat Robert Menasse das best komponierte Buch abgeliefert, das ich je gelesen habe. Da passte einfach alles. Jede Figur ist so beschrieben und wird so inszeniert, dass die Bilder und Empfindungen vor meinem geistigen Auge ab der ersten Seite abliefen. Er ist ein Meister der Überleitungen und Übergänge. Ein einziger Fluss von einer Person zur nächsten, die sich unbewusst begegnen und dieselben Szenen erleben. Plötzlich hatte ich Bach's "Air" im Ohr, das wunderbar zu diesem Kasperletheater passt. Ich liebe seinen Ton, die Sprache. Dazu baut er überall kleine Spitzfindigkeiten ein, teils schiefe Bilder, die grotesk/absurd anmuten und mich immer wieder zum lachen/schmunzeln brachten. Diese Bilder sind richtig stark konzipiert. Eine heftige Prellung auf dem Arm sieht für einen der Protas aus, als sei es der Umriss von Europa und will sich im besoffenen Kopp die Europa Sterne darauf tätowieren lassen... es endet mit der Erkenntnis: "Keine Sterne für ein verschwindendes Europa!" Stichwort Kasperletheater: Auf mich wirkte das Buch wie eine einzige Inszenierung, eine Augsburger Puppenkiste. Musste an [b:Kafka. Die Jahre Der Entscheidungen|1036434|Kafka. Die Jahre Der Entscheidungen|Reiner Stach|https://i.gr-assets.com/images/S/compressed.photo.goodreads.com/books/1180405803l/1036434._SY75_.jpg|80515]denken. Kafka, der ebenfalls in seinen Werken theaterhafte Szenen, in Anlehnung an das jüdische Theater verarbeitete. War dann umso mehr begeistert als [b:Die Verwandlung|930871|Die Verwandlung|Franz Kafka|https://i.gr-assets.com/images/S/compressed.photo.goodreads.com/books/1567352506l/930871._SY75_.jpg|2373750] tatsächlich im Buch auftauchte. Ein anderes Zitat des Buches " Wer die Freiheit und Wahrheit liebt, der verlernt zu lieben". Was in der EU vorrangig zählt: nationale Interessen und ob's der Wirtschaft nutzt. " Moral war noch nie ein politisches Programm - va wenn sie Konflikte produziert" An diesen Aussagen abarbeitend, werden die Figuren in Szenen gesetzt und Alois Erhart als Gegenpol implementiert, der später eine absolut pathetische Rede hält, die im krassen Gegensatz zu dem grundsätzlichen Ton des Buches steht. Hier schoss mir [b:Gesang der Fledermäuse|49010185|Gesang der Fledermäuse|Olga Tokarczuk|https://i.gr-assets.com/images/S/compressed.photo.goodreads.com/books/1575049044l/49010185._SY75_.jpg|8099373] in den Kopf mit der Aufforderung der Protagonistin:"Mehr Mut zum Pathos". Insgesamt fügen sich die Bücher sehr gut ineinander: Einige wenige strampeln gegen das Bollwerk der Ignoranz, der Kurzsichtigkeit und egozentrischen Weltsicht. Das das Buch ab der Mitte dann etwas zerfasert und sich einige Handlungsstränge im Nirwana auflösen, man sich fragt, warum deren Story überhaupt platziert wurde, warum einiges überhaupt nicht aufgelöst wird, passt für mich wunderbar zum absurden Bild, das die politische Bühne der EU bietet.
Verpasste Chance?
Ich interpretiere das Buch mal als große Kritik an der derzeitigen Ausrichtung der EU. Es werden diverse Themen verwoben (Nationalismus vs eine Zeit nach dem Nationalverständnis, Lobbyismus, EU-Karrieristen, die sich nur um ihr eigenes Wohl scheren, Kirchenkritik etc.), aber dadurch, dass so viele verschiedene Handlungsstränge und Charaktere eingeführt werden, wird keiner dieser komplett ausgemalt und der Autor schafft es nicht soviel Sympathie/Antipathie mit den Charakteren zu erzeugen, dass man als Leser in den Zustand des Mitfieberns versetzt wird. Obwohl es grundsätzlich Personen im Buch gibt, die Potenzial gehabt hätten (z.B. ein Graf mit einer wilden Familienhistorie, die sich über halb Europa spannt, oder eine griechische Zipriotin, die in eine Identitätskrise gerät). Der Autor schreibt grundsätzlich solide auch wenn ich persönlich finde, dass andere Autor:innen sprachlich noch deutlich mehr auffahren. Wenn ich als Leserin allerdings erst irgendwo zwischen Seite 250 und 300 erfahre, wie die Handlungsstränge zusammenlaufen und keine dieser Geschichten alleine *wirklich* interessant oder tragfäghig ist, ist das einfach zu lang. :-(
Die Hauptstadt ist ein hervorragender Roman über Europa, Idealismus, Nationalismus, Rassismus, Bürokratie, Massentierhaltung, Depression, Älterwerden, Tod, Clash of cultures, Terrorismus, Flüchtlinge, Egoismus, Machtstreben, Identität, Belgien usw. usf. Aber eigentlich ist es nicht nur Gesellschaftsroman, es ist auch eine Satire, eine Kriminalgeschichte, ein Historienroman, ein Entwicklungsroman und es hat Züge eines Sachbuchs. Das alles auf knapp über 400 Seiten. Da hat sich Herr Menasse wirklich viel vorgenommen, und im Grunde müsste ich voreingenommen sagen, dass das nicht funktionieren kann. Bekommt man den Zustand Europas und der Union in einen Roman unter? Muss man wirklich alles hineinpacken, was geht? Robert Menasse hatte wohl diesen Anspruch, und ich muss zugeben, dass es ihm sehr gut gelungen ist. Und jetzt kommt das Aber (ich versuche es mal im Dialekt des Autors): Aba hätt's denn net a bisserl weniger san könne? Ich hätte auch gut damit leben können, wenn gewisse Teilaspekte ausgeblendet worden wären. Die Flüchtlinge verkommen dann nur noch zum Grund für einen Autounfall und der Terror in Belgien wird zum schnellen Abbinder, nur um die Schicksalhaftigkeit des Lebens eine besondere Note zu geben. Leider gab es auch Handlungsstränge, deren Sinn mir im Gesamtkontext einfach nicht klar wurden. Da wird zu Beginn des Buchs eine falsche Person in einem Brüsseler Hotel ermordet und der polnische Mörder flieht in seine Heimat. Was wollte der Autor mir damit sagen? Nach Polen muss auch der österreichische EU-Beamte, der zu einer Gedenkfeier in Auschwitz geladen ist. Auf diese Weise verweben sich die einzelnen Personen und man gewinnt die Erkenntnis, dass alles mit allem irgendwie zusammenhängt, dass wir eine gemeinsame Geschichte, einen gemeinsamen Auftrag haben, dieses Konstrukt Europa zusammenzuhalten. Letztlich führte die Vielfalt der angerissen Themen und manch (für mich) unklare Aussage zu einem Stern Abzug. Aber der positive Eindruck vom Buch überwiegt. Ausgesprochen gut hat mir die Art der Satire gefallen, die nicht triefend spöttisch oder zynisch ist, sondern dezent und liebevoll. Der Roman ist leicht "angesatirt". Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass der Autor ein großes Herz für die europäische Idee hat und sie auch durch den Mund eines älteren österreichischen Professors einer Expertengruppe kund tut. Dessen Abschiedsrede vor den europäischen Kollegen ist für mich das Kernstück des Buchs. Allerdings liefert Menasse keine Lösung für die Probleme der EU, aber er vermittelt eine Vision. Und diese Vision ist nicht neu, es ist die Vision der Gründungsväter der EU, die er auf literarisch sehr ansprechender Weise hier dem Leser vorhält und zum Nachdenken anregt. Das Buch ist wie gesagt, vollgepackt mit Idee, Bestandsaufnahme und Analysen, dass es fast schon den Charakter eines Essays hat. Es ist ein ausgezeichnetes Plädoyer für die europäische Idee, und ich muss zugeben, dass er mich auf jeden Fall mit seiner zentralen Aussage gepackt hat. Die Figuren des Romans sind alle sehr gut beschrieben, in ihrem Denken, Handeln und Auftreten. Menasse hat eine besondere Gabe, gerade die introvertierten, schwermütigen Personen gut darzustellen. Obwohl das Buch durch die Themenvielfalt ein enormes Tempo hat, schafft er es, die Gedanken dieser Menschen (EU-Bürokrat, Auschwitz-Überlebender) mit einer solchen Ruhe und Melancholie zu Papier zu bringen, dass das Lesen ein wahre Freude war. Wir denken oft von der EU als einen anonymen Bürokomplex in Belgien, reden von "Brüssel" als wäre es ein Wesen, aber dahinter stecken Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen und unterschiedlichen persönlichen Geschichten. Mir ist Brüssel und die EU durch dieses Buch sympatischer geworden. Natürlich gibt es viel zu verbessern, aber die europäische Idee ist es wert, dafür zu kämpfen und zu arbeiten. Highly recommended.
Die Hauptstadt ist ein hervorragender Roman über Europa, Idealismus, Nationalismus, Rassismus, Bürokratie, Massentierhaltung, Depression, Älterwerden, Tod, Clash of cultures, Terrorismus, Flüchtlinge, Egoismus, Machtstreben, Identität, Belgien usw. usf. Aber eigentlich ist es nicht nur Gesellschaftsroman, es ist auch eine Satire, eine Kriminalgeschichte, ein Historienroman, ein Entwicklungsroman und es hat Züge eines Sachbuchs. Das alles auf knapp über 400 Seiten. Da hat sich Herr Menasse wirklich viel vorgenommen, und im Grunde müsste ich voreingenommen sagen, dass das nicht funktionieren kann. Bekommt man den Zustand Europas und der Union in einen Roman unter? Muss man wirklich alles hineinpacken, was geht? Robert Menasse hatte wohl diesen Anspruch, und ich muss zugeben, dass es ihm sehr gut gelungen ist. Und jetzt kommt das Aber (ich versuche es mal im Dialekt des Autors): Aba hätt's denn net a bisserl weniger san könne? Ich hätte auch gut damit leben können, wenn gewisse Teilaspekte ausgeblendet worden wären. Die Flüchtlinge verkommen dann nur noch zum Grund für einen Autounfall und der Terror in Belgien wird zum schnellen Abbinder, nur um die Schicksalhaftigkeit des Lebens eine besondere Note zu geben. Leider gab es auch Handlungsstränge, deren Sinn mir im Gesamtkontext einfach nicht klar wurden. Da wird zu Beginn des Buchs eine falsche Person in einem Brüsseler Hotel ermordet und der polnische Mörder flieht in seine Heimat. Was wollte der Autor mir damit sagen? Nach Polen muss auch der österreichische EU-Beamte, der zu einer Gedenkfeier in Auschwitz geladen ist. Auf diese Weise verweben sich die einzelnen Personen und man gewinnt die Erkenntnis, dass alles mit allem irgendwie zusammenhängt, dass wir eine gemeinsame Geschichte, einen gemeinsamen Auftrag haben, dieses Konstrukt Europa zusammenzuhalten. Letztlich führte die Vielfalt der angerissen Themen und manch (für mich) unklare Aussage zu einem Stern Abzug. Aber der positive Eindruck vom Buch überwiegt. Ausgesprochen gut hat mir die Art der Satire gefallen, die nicht triefend spöttisch oder zynisch ist, sondern dezent und liebevoll. Der Roman ist leicht "angesatirt". Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass der Autor ein großes Herz für die europäische Idee hat und sie auch durch den Mund eines älteren österreichischen Professors einer Expertengruppe kund tut. Dessen Abschiedsrede vor den europäischen Kollegen ist für mich das Kernstück des Buchs. Allerdings liefert Menasse keine Lösung für die Probleme der EU, aber er vermittelt eine Vision. Und diese Vision ist nicht neu, es ist die Vision der Gründungsväter der EU, die er auf literarisch sehr ansprechender Weise hier dem Leser vorhält und zum Nachdenken anregt. Das Buch ist wie gesagt, vollgepackt mit Idee, Bestandsaufnahme und Analysen, dass es fast schon den Charakter eines Essays hat. Es ist ein ausgezeichnetes Plädoyer für die europäische Idee, und ich muss zugeben, dass er mich auf jeden Fall mit seiner zentralen Aussage gepackt hat. Die Figuren des Romans sind alle sehr gut beschrieben, in ihrem Denken, Handeln und Auftreten. Menasse hat eine besondere Gabe, gerade die introvertierten, schwermütigen Personen gut darzustellen. Obwohl das Buch durch die Themenvielfalt ein enormes Tempo hat, schafft er es, die Gedanken dieser Menschen (EU-Bürokrat, Auschwitz-Überlebender) mit einer solchen Ruhe und Melancholie zu Papier zu bringen, dass das Lesen ein wahre Freude war. Wir denken oft von der EU als einen anonymen Bürokomplex in Belgien, reden von "Brüssel" als wäre es ein Wesen, aber dahinter stecken Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen und unterschiedlichen persönlichen Geschichten. Mir ist Brüssel und die EU durch dieses Buch sympatischer geworden. Natürlich gibt es viel zu verbessern, aber die europäische Idee ist es wert, dafür zu kämpfen und zu arbeiten. Highly recommended.
Als ich das Buch beendet hatte, wurde ich gefragt: Hält es, was der Hype verspricht? -Ja Ist es das beste Buch, das du 2017 gelesen hast? - Nein Ist es das beste 2017 erschienene Buch, das du gelesen hast? - Ja, definitiv Mir hat "Die Hauptstadt" wirklich gut gefallen. Trotz Sprüngen zwischen den Figuren und in der Zeit und der nicht gekennzeichneten wörtlichen Rede, ist es sehr angenehm zu lesen und zu folgen. Der Autor schafft es eine Tiefgründigkeit zu schaffen, an der die meisten meiner Ansicht nach scheitern, weil ihr Stil aufgesetzt wirkt. Das Ende hätte noch etwas abschließender sein können, aber ich hatte mit so etwas in der Art gerechnet und es passt zur Handlung. Ich finde das Buch spiegelt die politischen Vorgänge wunderbar wider und das immer mit einer leicht ironischen Note, die aber durchaus der Realität gar nicht so fern ist.
“Er hatte vergessen wollen, aber das hatte nur dazu geführt, dass er vergessen wurde.” Ein Buch, in welchem ein Mordfall, EU-Politik und Satire aufeinandertreffen. Wer mit vielen Charakteren und deren unterschiedlichen Handlungssträngen zurecht kommt und sich für Skuriles begeistern kann, wird hier einzigartiges Lesematerial für sich finden können.
Nicht so meines ....
Stellenweise 5 Sterne, aber manchmal auch langweilig. Deshalb insgesamt bei mir ca. 3,476 Sterne... ungefähr.
Ein Schwein rennt durch die Hauptstadt. Europa ist in diesem Roman ein Gewirr von Interessen, Akteuren und individuellen Geschichten. Es geschehen allerlei seltsame Dinge, die man nur versteht, wenn Mann genauer hinsieht. Robert Menasse gibt viele Rätsel, manche löst er auf, manche nicht. Das bleibt immer spannend und löst sich doch nie auf. Ein interessantes, unterhaltsames und spannendes Buch, manchem etwas zu bemüht.
Ein Kommissar mit gesundheitlichen Problemen, ein Holocaust-Überlebender, der in ein Altenheim ziehen muss, ein Professor der Volkswirtschaft im Ruhestand, ein einflussreicher österreichischer Schweinebauer, etliche Beamte der EU-Kommission verschiedener Nationalität und unterschiedlichen Ranges und schließlich … ein Schwein. Robert Menasse bietet in seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman eine umfangreiche Besetzung auf. Nun könnte man angesichts dieses Casts (mit Ausnahme des Schweins) einen Roman erwarten, in dem es trocken und bürokratisch zugeht. Zunächst ist auch erst einmal schwierig, dem Geschehen zu folgen. Menasse wirft den Leser ins kalte Wasser und eine Fülle von Charakteren her, als nämlich das besagte Schwein durch Brüssel rennt und von einigen unserer Protagonisten gesehen wird. Das Schwein (keineswegs ein Wild- sondern ein Hausschwein) soll später einen quasilegendären Status erringen. Hat man etwas Geduld mit dem Buch, steigt man irgendwann auch durch, wer wer ist in diesem Buch, nach einer Weile ergeben sich auch die Zusammenhänge, und die sind keineswegs trocken. Sogar einen Mordfall gibt es, der allerdings nicht auf konventionell-kriminalistische Art gelöst wird. Wer nicht viel darüber weiß, wie es in den Institutionen der EU tatsächlich zugeht, erhält in diesem Buch manchen Einblick, insbesondere in die Beschaffenheit und Abhängigkeiten in der Europäischen Kommission. Eine der Hauptfiguren des Romans, Fenia Xenopoulou, möchte gern das Ressort wechseln und sich mit einem erfolgreichen Projekt zur Feier des 50-jährigen Bestehens der Kommission profilieren, ein weiterer Hauptcharakter wird hierfür verpflichtet, der wiederum der Bruder des österreichischen Schweinebauers ist, der gegen Unstimmigkeiten in der EU bezüglich des Handels mit Schweinefleisch vorgehen will und stimmt, da war doch die Sache mit dem Schwein. Das Schwein stellt uns nicht nur verschiedene Charaktere vor, sondern rennt wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Robert Menasse schafft es, einen kritischen EU-Roman vorzulegen, der letztendlich jedoch eine Vision für Europa vertritt: Es ist bekannt, dass Menasse Befürworter eines Europas der Regionen ist. Entsprechend finden sich in dem Roman einige faszinierende Gedankenspiele, unter anderem eben für eine europäische Hauptstadt (und zwar nicht Brüssel), sodass der Titel des Romans zweideutig wird. Nicht vergessen will ich, das der Roman auch in sprachlicher Hinsicht Spaß macht, Menasse schreibt auf hohem Niveau. Als einzige Kritik fällt mir ein, dass die Passage von David de Vriend, dem Holocaustüberleben gegen Ende des Buches meiner Meinung nach etwas zu lang geraten ist. (Möglicherweise entsteht dieser Eindruck auch durch das Hörbuchformat.) Ich war skeptisch, ob mich dieses Buch würde fesseln können, in diesem Fall ist es tatsächlich dem Deutschen Buchpreis zu verdanken, dass ich mich dafür entschieden habe, und ich bin froh es gelesen zu haben. Die Hörbuchform verhindert zwar das Notieren von Zitaten (und eventuell einer Liste der Charaktere…), ist aber ansonsten durchweg empfehlenswert, Berkel ist ein geübter Sprecher, der darüber hinaus die Aussprache von französischen, niederländischen und sonstigen fremdsprachigen Namen tadellos meistert.
leider nichts für mich
Nach einem ersten Blick auf die Longlist und später sowieso auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises war mir sofort klar, dass dieses Buch gewinnen würde. Meistens sind die Sieger politisch motiviert und genau das ist auch hier wieder der Fall. Prämiert wurde meines Erachtens nicht der Roman, sondern eine Idee: Auschwitz, das "nie wieder geschehen darf", wird als Ort für eine Hauptstadt der Europäischen Union vorgeschlagen. Nebenbei gibt es noch ein wenig Satire auf den Büroalltag in der Kommission, die mir allerdings nie bissig genug war, ein Schwein, das durch Brüssel rennt und einen vertuschten Mord. Der Roman wird in Episoden erzählt. Nach den ganzen euphorischen Rezensionen war ich sicher, dass sich alles am Schluss wunderbar zusammenfügen würde, dies war aber leider überhaupt nicht der Fall. Insgesamt bin ich also ziemlich enttäuscht und hätte gerne einen anderen Gewinner gesehen. (Vielen Dank an Netgalley/den Verlag für die Bereitstellung eines kostenlosen digitalen Leseexemplars!)
Brüssel, Hauptsitz der Europäischen Kommission, ihres Zeichens supranationales Herz der Europäischen Union und Hüterin der Verträge. Die EU-Kommissare werden zwar von ihren jeweiligen Regierungen nominiert, sollen aber nicht nur nationale Interessen vertreten, sondern die gemeinsamen Ziele der Union. Union – also Einheit! –, gemeinsame Ziele? Welch hehres Ideal. Doch Menasse zeigt in seinem Roman gnadenlos, wie wenig die Realität diesem Ideal entspricht. Wie ein Leitmotiv zieht es sich durch das Buch: das gnadenlose Scheitern, das durch Zusammenarbeit hätte verhindert werden können, im Großen wie im Kleinen. Der moralische Bankrott. Absurd, lachhaft, aber das Lachen bleibt einem ab und an im Halse stecken. Da gönnen sich die Ressorts der Kommission gegenseitig nicht die Butter auf dem Brot. Von Union keine Spur, man macht sich kaum die Mühe, Eigeninteressen zu verschleiern. Wen schert es schon, wenn die Suizidrate in Griechenland alarmierend steigt? Nur die Griechen. Und wenn es der eigenen Sache dient, wechselt man sogar die nationale Identität. Da kommt direkt mehreren Menschen eine Erleuchtung: Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission – Auschwitz als zwingender Grund dafür, dass nationale Interessen supranationalen Interessen weichen müssen, damit sich die Geschichte niemals wiederholt! Zwar begegnen sie sich, nichtsahnend, aber dennoch kommen sie nicht zusammen. Der Gedanke verliert sich in den Plattitüden von Menschen, für die Auschwitz nur noch ein lästiger Klotz am Bein ist, den man seit dem Zweiten Weltkrieg hinter sich herschleppt, oder bestenfalls eine Gelegenheit, in regelmäßigen Abständen die eigene Ergriffenheit zur Schau zu stellen. Und derweil sterben die letzten Zeitzeugen. Ein alter Mann streicht Name für Name von einer Liste, die überaus wertvoll hätte sein können, wäre sie zur rechten Zeit in die rechten Hände gelangt. Am ehesten sorgt noch das Schwein für Einheit, das durch die Stadt geistert – und sogar das fügt sich wieder in das Leitmotiv, gelingt es doch nicht, in einer gemeinschaftlich organisierten Aktion das Schwein einzufangen. Wer sich jedoch über das Schwein profilieren kann, der tut es. Das Schwein als verkörperte Bürokratie? Und dennoch: "Die Hauptstadt" ist meines Erachtens nicht anti-EU, sondern lediglich kritisch gegenüber deren Umsetzung. Als Leser fragt man sich, wie es weitergehen kann, soll, muss. Die Grundidee ist bestechend, die Umsetzung glänzt durch feinen Humor und genaue Beobachtung zwischenmenschlicher Nuancen. Ich kann durchaus nachvollziehen, warum diesem Buch der Deutsche Buchpreis verliehen wurde. Und dennoch. Das Fragmentarische der Handlung unterstreicht zwar die eklatante Uneinigkeit von Menschen, die sich von Berufs wegen der Einigung verschrieben haben, macht es aber auch ermüdend, den verschiedenen Handlungssträngen zu folgen. Menasse verliert sich im Detail, und bis zu einem gewissen Punkt war ich bereit, ebenfalls verloren zu gehen und zu sehen, wohin die Reise geht. Und tatsächlich: vieles ist hochinteressant, feinsinnig, bietet lohnende philosophische Denkansätze. Vieles liest sich aber auch wie eine Sammlung politischer Essays, die allerhöchstens lose verknüpft sind, angesiedelt irgendwo zwischen Sachbuch und Politsatire. Vieles ist grandios, keine Frage. Manche der Charaktere sind lebendig, komplex und glaubhaft – andere hingegen nur eine Handbreit vom Klischee entfernt. Der Schreibstil kann so wunderbar sein, dass man sich ganze Passagen abschreiben und an die Wand hängen will – dann wiederum merkwürdig flach und zugleich übertrieben. Allerdings hege ich bei beidem den Verdacht, dass Menasse in voller Absicht mit den Erwartungen des Lesers spielt, um die Absurdität gewisser Situationen herauszustellen! Die Europäische Kommission, war mein Eindruck, parodiert sich im Grunde selbst. Die Lesbarkeit wird erschwert durch einen generellen Mangel an Anführungszeichen in der direkten Rede und gleichzeitig eine Vielzahl an fremdsprachigen Sätzen, die nirgendwo erläutert, geschweige denn übersetzt werden. Soll auch das betonen, dass die innereuropäische Kommunikation nicht funktioniert? Wenn ja, vermittelt es zumindest einen Hauch der Frustration darüber. An manchen Stellen erschien mir die Symbolik zu gewollt. So versucht zum Beispiel ein Mitarbeiter der Kommission seiner Vorgesetzten die Bedeutung von Auschwitz für die Gründung der Kommission zu erläutern, sie indes hört ihm nur mit halbem Ohr zu – und wischt sich beiläufig Asche von der Bluse. Die Vermischung von Fakt und Fiktion funktioniert in meinen Augen meistens gut; da unterstützt das eine die Wirkung des anderen. Manchmal überschreitet Menasse jedoch die Grenze dessen, was für mich noch glaubhaft ist. Die Profilkiller des Vatikan wollten sich für mich zum Beispiel nicht so recht in die Handlung einfügen, außer vielleicht als Kontrapunkt zum europäischen Grundgedanken. Fazit: Mein Leserherz blutet – wollte ich diesen Roman doch eigentlich in den Himmel loben. Nicht nur hat es den Deutschen Buchpreis gewonnen, nein: der Autor wirkte bei der Verleihung so charmant verblüfft und überrumpelt, dass ich bereit war, sein Werk zu lieben. Stattdessen muss ich mich damit begnügen, dass ich es 'nur' gut finde... Ja, manches finde ich sogar wunderbar, aber eben nicht alles. Es ist in meinen Augen vor allem eine (selbst-)ironische Satire, angereichert durch philosophische Gedanken und Betrachtungen über den Grundgedanken der Europäischen Union und das Wesen des Menschen – mit einer Prise Krimi. Aber über lang(atmig)e Strecken geht es eben um Bürokratie: deren Fallstricke, Intrigen und absurde Auswucherungen. Und was sagt man über die Mühlen der Bürokratie? Richtig. Da kommt auch die turbulenteste Geschichte kreischend zum Stillstand. Was allerdings wiederum die Botschaft unterstreicht: Stillstand ist hier der Tod guter Ideen. Auch, wenn ich den Roman nicht so innig lieben konnte, wie ich es mir gewünscht hätte, ist er doch lohnend, wenn man sich für die Thematik interessiert. Bis auf kleinere Durststrecken fand ich die Geschichte durchaus unterhaltsam, sogar spannend, mit einem intelligenten feinen Humor und vor allem: zum Nachdenken anregend.
Das erste Buch in 2020. Es war eine sehr unterhaltsame Lektüre über die EU-Kommission. Allerdings habe ich mir, was ganz anderes vorgestellt beim Lesen des Klappentextes. Es ist ein Buch, was außerhalb meiner Komfortzone auch liegt. Die ganzen Kulturdirektionsmitarbeiter kann man einfach nur gern haben.