14. Apr. 2024
Bewertung:4

Diese Lektüre musste ich mir wirklich hart erarbeiten, denn Uwe Johnson verlangt viel von seiner Leserschaft. Die Geschichte rund um den bei der Deutschen Reichsbahn in der DDR als Dispatcher (Stellwerkleiter) angestellten Jakob Abs, der im November 1956 aus ungeklärten Gründen auf seinem Gleisgelände vom Zug erfasst wird und stirbt, wird weder chronologisch noch stringent in einer bestimmten Form oder durch eine bestimmte Person erzählt. Vielmehr lesen sich die einzelnen Absätze wie Gesprächsprotokolle, Verhöre, Gedankenströme oder auch mal zwischendurch durch einen Erzähler, der aber alles andere als allwissend ist. Und so bekommt man quasi die Glasscherben eines Spiegels präsentiert, denn man mit Mühe sich erst selbst zusammenpuzzeln muss. Dabei ist es noch nicht mal sicher, wenn man in eine Scherbe hineinschaut, wen man eigentlich sieht, sprich, wer der Sprecher dieser Gedanken ist. Oft ergibt es sich aus dem Kontext. Aber es kam immer wieder vor, dass ich im Dunkeln tappte und so bei einem Blick in die Inhaltsangabe im Netz am Ende der Lektüre überrascht war, wie das Bild tatsächlich aussah. Ich lag aber sehr nahe dran. Nur bei manchen Handlungsabschnitten habe ich mich gefragt, ob ich die wirklich gelesen hatte. Das Ganze läßt mich aber alles andere als unzufrieden zurück. Vielmehr war es eine spannende Reise, die vor allem durch die faszinierende Sprache Johnsons erleichtert wurde. Das Buch lebte für mich gar nicht so sehr durch die Handlung, sondern mehr durch die Atmosphäre, die bei der Beschreibung des Alltags in der DDR im Jahr 1956 zum Ausdruck kam. Es wirkt alles irgendwie grau und melancholisch, ja freudlos würde ich fast sagen. Oft ist dieser nöhlende Ton zu hören, wie wenn nachts um 1 Uhr zwei letzte Gäste einer verrauchten Bar in ihren Erinnerungen festhängen. Die Figuren sind auch nicht plakativ. Jakob ist still und pflichtbewusst. Seine Freundin Gesine aus Kindertagen, die in den Westen flüchtet, ist keineswegs überzeugt vom Kapitalismus des Westens. Jonas, der früher Arbeitskollege Gesines aus Ost-Berlin, ist ein kritischer Intellektueller, der aber keine flammende Reden gegen den Sozialismus hält, sondern vielmehr Angst vor dem Stalinismus der Sowjetunion hat und sich eine Art neuen, menschlichen Sozialismus wünscht. Diese Dreiecksbeziehung durchbricht Herr Rohlfs, Mitarbeiter der Staatssicherheit, der aber zunächst nicht kalt und herrisch auftritt, sondern den Plan verfolgt, dass Gesine als Spionin im Westen arbeitet. Erst gegen Ende zeigt sich in ihm die unerbittliche Staatsmacht. In den Wochen vor Jakobs tödlichen Unfall ist das Weltgeschehen durch den blutigen Niederschlagung der Revolution in Ungarn durch die Sowjetunion im Osten und die Suez-Krise in Ägypten im Westen geprägt, bei dem westliche Mächte kriegerisch eingreifen. Die Protagonisten des Buchs heißen beide Konflikte nicht gut und sehen somit eigentlich weder im Osten noch im Westen ihre Heimat. Diese Zerrissenheit, die ja geradezu typisch für das geteilte Deutschland ist, kommt hier hervorragend zur Geltung. Es ist ein Buch, bei dem ich schon während des Lesens dachte, dass ich es bestimmt irgendwann nochmal lesen werde, ja lesen muss. Bestimmt ergeben sich dann ganz andere Blickwinkel. War es am Ende Mord, Selbstmord oder doch nur ein tragischer Unfall? „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“ (erster und bester Satz des Buchs). Spannend.

Mutmassungen über Jakob
Mutmassungen über Jakobvon Uwe JohnsonSuhrkamp
23. Feb. 2024
Bewertung:4

Diese Lektüre musste ich mir wirklich hart erarbeiten, denn Uwe Johnson verlangt viel von seiner Leserschaft. Die Geschichte rund um den bei der Deutschen Reichsbahn in der DDR als Dispatcher (Stellwerkleiter) angestellten Jakob Abs, der im November 1956 aus ungeklärten Gründen auf seinem Gleisgelände vom Zug erfasst wird und stirbt, wird weder chronologisch noch stringent in einer bestimmten Form oder durch eine bestimmte Person erzählt. Vielmehr lesen sich die einzelnen Absätze wie Gesprächsprotokolle, Verhöre, Gedankenströme oder auch mal zwischendurch durch einen Erzähler, der aber alles andere als allwissend ist. Und so bekommt man quasi die Glasscherben eines Spiegels präsentiert, denn man mit Mühe sich erst selbst zusammenpuzzeln muss. Dabei ist es noch nicht mal sicher, wenn man in eine Scherbe hineinschaut, wen man eigentlich sieht, sprich, wer der Sprecher dieser Gedanken ist. Oft ergibt es sich aus dem Kontext. Aber es kam immer wieder vor, dass ich im Dunkeln tappte und so bei einem Blick in die Inhaltsangabe im Netz am Ende der Lektüre überrascht war, wie das Bild tatsächlich aussah. Ich lag aber sehr nahe dran. Nur bei manchen Handlungsabschnitten habe ich mich gefragt, ob ich die wirklich gelesen hatte. Das Ganze läßt mich aber alles andere als unzufrieden zurück. Vielmehr war es eine spannende Reise, die vor allem durch die faszinierende Sprache Johnsons erleichtert wurde. Das Buch lebte für mich gar nicht so sehr durch die Handlung, sondern mehr durch die Atmosphäre, die bei der Beschreibung des Alltags in der DDR im Jahr 1956 zum Ausdruck kam. Es wirkt alles irgendwie grau und melancholisch, ja freudlos würde ich fast sagen. Oft ist dieser nöhlende Ton zu hören, wie wenn nachts um 1 Uhr zwei letzte Gäste einer verrauchten Bar in ihren Erinnerungen festhängen. Die Figuren sind auch nicht plakativ. Jakob ist still und pflichtbewusst. Seine Freundin Gesine aus Kindertagen, die in den Westen flüchtet, ist keineswegs überzeugt vom Kapitalismus des Westens. Jonas, der früher Arbeitskollege Gesines aus Ost-Berlin, ist ein kritischer Intellektueller, der aber keine flammende Reden gegen den Sozialismus hält, sondern vielmehr Angst vor dem Stalinismus der Sowjetunion hat und sich eine Art neuen, menschlichen Sozialismus wünscht. Diese Dreiecksbeziehung durchbricht Herr Rohlfs, Mitarbeiter der Staatssicherheit, der aber zunächst nicht kalt und herrisch auftritt, sondern den Plan verfolgt, dass Gesine als Spionin im Westen arbeitet. Erst gegen Ende zeigt sich in ihm die unerbittliche Staatsmacht. In den Wochen vor Jakobs tödlichen Unfall ist das Weltgeschehen durch den blutigen Niederschlagung der Revolution in Ungarn durch die Sowjetunion im Osten und die Suez-Krise in Ägypten im Westen geprägt, bei dem westliche Mächte kriegerisch eingreifen. Die Protagonisten des Buchs heißen beide Konflikte nicht gut und sehen somit eigentlich weder im Osten noch im Westen ihre Heimat. Diese Zerrissenheit, die ja geradezu typisch für das geteilte Deutschland ist, kommt hier hervorragend zur Geltung. Es ist ein Buch, bei dem ich schon während des Lesens dachte, dass ich es bestimmt irgendwann nochmal lesen werde, ja lesen muss. Bestimmt ergeben sich dann ganz andere Blickwinkel. War es am Ende Mord, Selbstmord oder doch nur ein tragischer Unfall? „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“ (erster und bester Satz des Buchs). Spannend.

Mutmassungen über Jakob
Mutmassungen über Jakobvon Uwe JohnsonSuhrkamp