
Historischer Roman über die Anna Freud, Wegebereiterin der Psychoanalyse bei Kindern, Freundin, Emigrantin, Tochter und Pflegerin Sigmund Freud - tolle, unterhaltsame Lektüre trotz großer Themen
„Die Tochter meines Vaters“ reduziert - so war es jedenfalls zunächst meine Lesart - Anna auf genau diese Rolle in ihrem Leben als die Rolle ihres Lebens im schatten des berühmten Psychoanalytikers Sigmund Freud. Seite um Seite entfaltet die Autorin mit dem Pseudonym Romy Seidel die vielen Facetten von Anna, deren Lebenstraum eine eigene Praxis und eine eigene Schule ist. Die Biographie beeindruckt, denn Anna verfolgt ihren Weg und träumt ganz groß, obwohl da stets der Schatten ihres Vaters ist, nach dessen Anerkennung sie sich sehnt und der immer an erster Stelle steht. Völlig selbstverständlich begleitet sie ihn durch seine lange Krankheitsgeschichte. Anna bleibt unverheiratet, der Ehe kann sie nichts abgewinnen. Sie lernt zu lieben. Sie pflegt intensiv Freundschaften. Sie setzt sich ein. Durch ca. 400 Seiten und ein halbes Jahrhundert hindurch lernte ich Anna neu kennen. Das Buch ist in Abschnitte nach Jahreszahlen und Lebensorten gegliedert, wodurch einige kleine Zeitsprünge möglich sind, die der erzählten Zeit keinen Abbruch tun. Mich hat die Lektüre bewegt. Als Leserin begleitete ich Anna als junge Erwachsene, die ihren Weg geht, während die Welt um sie herum sich für den Krieg bereit macht. Und dennoch: Anna hält an ihrer inneren Welt fest, baut auf, bewegt. All das zu einer Zeit, in der allein ihre Existenz als absolutes Paradoxon gilt: unverheiratet, berufstätig auf Neuland, forschend, wissenschaftlich publizierend, queer und all das als Frau, noch dazu Jüdin. Mich hat die Lektüre sehr angeregt. Der Schreibstil ist angenehm, weder hochgestochen eloquent noch allzu blumig ausgeschmückt. Und dennoch: irgendwas hielt mich auf Distanz, daher ein Stern Abzug. Vielleicht ist das aber auf die hohe Kunst der Perfomanz des Buches, die ich (noch) nicht zu schätzen weiß. Besonders das Nachwort möchte noch ich erwähnen, denn hier umreißt die Autorin, was sie tatsächlich den Quellen entnommen hat und wo sie fiktiv ergänzt hat. Großartig recherchiert!