Menschliche Abgründe und berührende Freundschaft - brillant erzählt
Stephen Kings Frühling, Sommer, Herbst und Tod ist eine eindrucksvolle Sammlung von vier Novellen, die allesamt auf ihre eigene Art fesseln und erschüttern. Die Geschichten sind schonungslos, stellenweise grausam und traurig – doch immer intelligent erzählt und meisterhaft komponiert. Die Figuren wirken erschreckend real, tiefgründig gezeichnet und emotional greifbar. Wie so oft bei King bleibt am Ende etwas zurück, das nicht so leicht loslässt. Ein zusätzlicher Reiz für viele Leser*innen: Drei der vier Geschichten wurden verfilmt – zwei davon herausragend gut. 1. Frühlingserwachen: Pin-up (Verfilmt als "Die Verurteilten", mit Tim Robbins und Morgan Freeman, IMDb 9,3) Diese Geschichte spielt im brutalen Alltag eines US-Gefängnisses. Im Zentrum steht ein verurteilter Mörder, dem unter den widrigsten Umständen das Unfassbare gelingt – und ein Pin-up-Poster spielt dabei eine zentrale Rolle. Mehr möchte ich nicht verraten, denn die Wendungen gehören zu den stärksten Momenten. King schafft es, die Gefangenen nicht als bloße Kulisse, sondern als vielschichtige Menschen zu zeigen. Ihr Leid, ihre Hoffnung und ihr Überlebenswille gehen unter die Haut. Der Film – für mich vorher unbekannt – ist eine fantastische Adaption: atmosphärisch, nah an der Vorlage, brillant besetzt. 2. Sommergewitter: Der Musterschüler (Verfilmt als "Apt Pupil", mit Ian McKellen, IMDb 6,7) Diese Novelle hat mich an meine Grenzen gebracht. Mindestens zweimal war ich kurz davor abzubrechen – nicht wegen mangelnder Qualität, sondern weil die Geschichte so verstörend ist. Ein NS Kriegsverbrecher und ein scheinbar unauffälliger Jugendlicher treffen aufeinander und verstricken sich in ein psychologisch finsteres Machtspiel. Beide offenbaren zunehmend ihre Abgründe, bis Moral und Menschlichkeit vollständig verschwimmen. King seziert hier das Böse in einer Intensität, die schwer auszuhalten – aber wahrscheinlich deshalb so wirkungsvoll ist. 3. Herbstlaub: Die Leiche (Verfilmt als "Stand by Me", mit River Phoenix, IMDb 8,1) Wenn ich mich recht erinnere, habe ich 'Die Leiche" damals im Englisch-LK gelesen – und auch den Film habe ich inzwischen ein paar Mal gesehen. Was ich damals aber sicher noch nicht wusste: dass Stephen King einmal mein Lieblingsautor werden würde – und dass auch diese Geschichte ein kleines Meisterwerk ist. Sie ist wohl stark autobiografisch, was man sofort glaubt, denn der Protagonist wird später ein sehr erfolgreicher Autor. Dieses Wissen verleiht der Geschichte zusätzliche Tiefe, und ich wünschte, ich wüsste ganz genau, was davon wirklich so passiert ist. Waren die Freunde wirklich so? Haben sie all das tatsächlich erlebt? Ich würde es sofort glauben. Denn wenn King eines kann, dann glaubwürdige Figuren und lebendige Settings erschaffen. Die Leiche ist dafür das perfekte Beispiel: Eigentlich interessiert mich ein Abenteuer von vier Jungs Ende der 50er Jahre nicht übermäßig – aber Kings Erzählkunst hat mich vom ersten Satz an komplett gepackt. 4. Wintermärchen: Atemtechnik Dank dieser Geschichte weiß ich jetzt endlich, warum genau im Geburtsvorbereitungskurs so merkwürdig geatmet wird – und warum das Ganze am besten klingen muss wie ein Zug :). Die Atemtechnik ist eine Geschichte eingebettet in einer Geschichte über einen undurchsichtigen Herrenclub, dessen Mitglieder sich makabre Anekdoten erzählen. Die eigentliche Erzählung dreht sich um eine junge, unverheiratete Frau, die alles daran setzt, ihr Kind zur Welt zu bringen – in einer Zeit, in der sie dafür gesellschaftlich geächtet wird. Gerade diese historische Einbettung fand ich sehr spannend. Die Charaktere sind auch hier überraschend einnehmend – selbst in dieser eher kurzen und skurrilen Episode. Fazit: Frühling, Sommer, Herbst und Tod zeigt Stephen King auf einem literarischen Höhepunkt. Vier Jahreszeiten, vier Geschichten über das, was Menschen antreibt – oder zerstört. Es geht hier nicht um Monster oder übernatürliche Schrecken, sondern um das Böse, das in uns allen schlummert, um das Leben, das sich seinen Weg bahnt, und um Erinnerungen, die nicht verschwinden. Wer King bisher nur als Horrorautor gesehen hat, wird hier eines Besseren belehrt. Einen halben Stern Abzug gibt es für "Der Musterschüler" - eine brillante Geschichte, die mir ein bisschen zu heftig war.