14. Apr. 2024
Bewertung:5

Meine Mutter sagte, ich würde noch tausendmal morgens aufwachen und Zeit haben, über all das nachzudenken, ohne das mir jemand vorschreibe, was ich dabei fühlen sollte. Mittlerweile sind es schon viele Tausend gewesen. Ich weiß nur, dass man besser Chance im Leben hat - bessere Überlebenschancen - wenn man gut mit Verlusten umgehen kann; wenn man es schafft, darüber nicht zum Zyniker zu werden. […] Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es. ENDE Dies sind die letzten Sätze eines großartigen Romans, der sich meines Erachtens einreihen kann in die Reihe der klassischen, amerikanischen Erzählungen. Dieser Satz über die Bedeutung des Umgangs mit Verlusten zur Erhöhung der eigenen Überlebenschancen ist das zentrale Leitmotiv in dem Buch, in dem wir die Geschichte von Dell Parson erzählt bekommen, der als 15jähriger im Jahr 1960 in einer Kleinstadt in Montana mit seiner Eltern und seiner Zwillingsschwester Berner in ruhigen Verhältnissen aufwächst. Dell erzählt die Geschichte in der ersten Person, aber nicht aus der Sicht eines Teenagers, sondern mit dem Abstand von 50 Jahren als angehender, pensionierter Lehrer. Auch wenn die Reflexionen dadurch nicht altersgerecht wiedergegeben werden, so bekommen die Beschreibungen der Menschen und der Dinge eine große Tiefe und die Schlussfolgerungen enden in solchen oben angeführten Weisheiten, die bestimmt noch lange in mir nachklingen werden. Thematisch scheinen sich Benedict Wells Buch [b:Vom Ende der Einsamkeit|28051948|Vom Ende der Einsamkeit|Benedict Wells|https://i.gr-assets.com/images/S/compressed.photo.goodreads.com/books/1449303398l/28051948._SY75_.jpg|48053587] und Kanada zu ähneln, denn in beiden Büchern spielen die Geschwisterbeziehung eine wesentliche Rolle und in beiden Fällen endet die Kindheit der Teenager abrupt durch einen Schicksalsschlag. Doch bei Richard Ford verunglücken die Eltern nicht tödlich, sondern begehen die Dummheit eines dilettantischen Bankraubs, werden gefasst und inhaftiert. Während Berner mit ihrem Freund flieht bevor das Jugendamt kommt, wird Dell von einer Freundin der Mutter über die Grenze nach Kanada gebracht, wo er Unterschlupf bei deren Bruder erhält. Doch auch hier gibt es emotionale Entbehrungen und auch diese Geschichte im Leben Dells endet mit einem Verbrechen. Und wieder verliert er alles und muss weiterziehen. Mir hat vor allem dieser ruhige Erzählton Dells gefallen, der sich zieht, wie ein langer Highway durch die Kornfelder Montanas. In Dells Stimme hört man nie eine Anklage oder ein Hadern mit dem Schicksal. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass einem das Leben leer geschenkt wird und dass es an einem selbst liegt, dieses Leben zu befüllen. Das klingt vielleicht wie eine Weisheit aus dem Glückskeks beim Chinesen, aber letztlich ist es einfach bewundernswert wie sehr Dell geerdet und in sich ruhend ist. Im Gegensatz zu seiner wilden Schwester kann der leicht naive und phlegmatische, introvertierte Bruder sein Leben meistern, trotz aller Verluste. Und so endet die Geschichte Dells trotz aller Brutalität und Traurigkeit hoffnungsvoll. Womit auch wieder die Parallele zu dem deutschen Kanada von Benedict Wells gezogen werden kann. Unbedingte Leseempfehlung.

Kanada
Kanadavon Richard FordHanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
23. Feb. 2024
Bewertung:5

Meine Mutter sagte, ich würde noch tausendmal morgens aufwachen und Zeit haben, über all das nachzudenken, ohne das mir jemand vorschreibe, was ich dabei fühlen sollte. Mittlerweile sind es schon viele Tausend gewesen. Ich weiß nur, dass man besser Chance im Leben hat - bessere Überlebenschancen - wenn man gut mit Verlusten umgehen kann; wenn man es schafft, darüber nicht zum Zyniker zu werden. […] Wir versuchen es. Wir alle. Wir versuchen es. ENDE Dies sind die letzten Sätze eines großartigen Romans, der sich meines Erachtens einreihen kann in die Reihe der klassischen, amerikanischen Erzählungen. Dieser Satz über die Bedeutung des Umgangs mit Verlusten zur Erhöhung der eigenen Überlebenschancen ist das zentrale Leitmotiv in dem Buch, in dem wir die Geschichte von Dell Parson erzählt bekommen, der als 15jähriger im Jahr 1960 in einer Kleinstadt in Montana mit seiner Eltern und seiner Zwillingsschwester Berner in ruhigen Verhältnissen aufwächst. Dell erzählt die Geschichte in der ersten Person, aber nicht aus der Sicht eines Teenagers, sondern mit dem Abstand von 50 Jahren als angehender, pensionierter Lehrer. Auch wenn die Reflexionen dadurch nicht altersgerecht wiedergegeben werden, so bekommen die Beschreibungen der Menschen und der Dinge eine große Tiefe und die Schlussfolgerungen enden in solchen oben angeführten Weisheiten, die bestimmt noch lange in mir nachklingen werden. Thematisch scheinen sich Benedict Wells Buch [b:Vom Ende der Einsamkeit|28051948|Vom Ende der Einsamkeit|Benedict Wells|https://i.gr-assets.com/images/S/compressed.photo.goodreads.com/books/1449303398l/28051948._SY75_.jpg|48053587] und Kanada zu ähneln, denn in beiden Büchern spielen die Geschwisterbeziehung eine wesentliche Rolle und in beiden Fällen endet die Kindheit der Teenager abrupt durch einen Schicksalsschlag. Doch bei Richard Ford verunglücken die Eltern nicht tödlich, sondern begehen die Dummheit eines dilettantischen Bankraubs, werden gefasst und inhaftiert. Während Berner mit ihrem Freund flieht bevor das Jugendamt kommt, wird Dell von einer Freundin der Mutter über die Grenze nach Kanada gebracht, wo er Unterschlupf bei deren Bruder erhält. Doch auch hier gibt es emotionale Entbehrungen und auch diese Geschichte im Leben Dells endet mit einem Verbrechen. Und wieder verliert er alles und muss weiterziehen. Mir hat vor allem dieser ruhige Erzählton Dells gefallen, der sich zieht, wie ein langer Highway durch die Kornfelder Montanas. In Dells Stimme hört man nie eine Anklage oder ein Hadern mit dem Schicksal. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass einem das Leben leer geschenkt wird und dass es an einem selbst liegt, dieses Leben zu befüllen. Das klingt vielleicht wie eine Weisheit aus dem Glückskeks beim Chinesen, aber letztlich ist es einfach bewundernswert wie sehr Dell geerdet und in sich ruhend ist. Im Gegensatz zu seiner wilden Schwester kann der leicht naive und phlegmatische, introvertierte Bruder sein Leben meistern, trotz aller Verluste. Und so endet die Geschichte Dells trotz aller Brutalität und Traurigkeit hoffnungsvoll. Womit auch wieder die Parallele zu dem deutschen Kanada von Benedict Wells gezogen werden kann. Unbedingte Leseempfehlung.

Kanada
Kanadavon Richard FordHanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG