Ein Roman über Freundschaft und Liebe und die Frage, unter welchen Bedingungen Veränderungen möglich sind
»Aber du bist ja ein Dichter, Ilja!« unterbrach ihn Stolz. »Ja, ein Dichter auf dem Gebiete des Lebens; denn das Leben ist Poesie. Aber es steht den Menschen frei, es zu karikieren!« (S. 282) Iwan Gontscharows Roman „Oblomow“ gehört zu den zentralen Texten der russischen Literatur und ist dem sog. „Petersburger Text“ zuzuordnen. War ich noch während des Studiums davon überzeugt, dass ein Roman über „Langeweile und Müßiggang“ (oder „Oblomowerei“) wie ihn mein Professor charakterisierte, für meine persönliche Lesebiographie verzichtbar wäre, überwog zuletzt die Neugier… Der Roman gliedert sich in vier Teile, in denen auf der Handlungsebene relativ wenig passiert. In Briefen, Gesprächen und Träumen werden die großen Fragen des Lebens behandelt: ⭐️ Wie sieht ein gelungenes Leben aus? ⭐️ Kann die Liebe Flügel verleihen? Dabei werden in den Figuren der Kindheitsfreunde Andrej Stolz, der als Kind eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter für ein angeregtes und arbeitsreiches Leben steht und Ilja Oblomow, der als „gnädiger Herr“ und Gutsbesitzer zwar an der Universität gewesen ist, jedoch für die Bewältigung des Alltags die Hilfe von Dienern, Haushältern und Freunden benötigt, zwei unterschiedliche Lebensentwürfe dargelegt. Oblomow, eine feinfühlige, lichte Seele, träumt von einem ruhigen, von Liebe erfüllten Leben, das ohne größere Erschütterungen dahinfließt. Mit nur 30 Jahren ist er bereits aus dem Staatsdienst zurückgetreten und verlebt die Tage zwischen Träumen und Wachen, auf der Grundlage des Geldes, das sein 300-Seelen-Gut abwirft. Doch mit der Wirtschaft steht es nicht zum Besten und plötzlich will ihn auch noch sein Vermieter aus der Wohnung im Petersburger Stadtzentrum werfen. Über Andrej Stolz lernt Oblomow die junge Olga kennen, die mit ihrem Gesang seine Seele berührt und ihn ermuntert, sein Leben in die Hand zu nehmen. Kann Oblomow das schaffen? Die Frage, ob und unter welchen Umständen Veränderungen möglich sind, kann dabei auch auf eine höhere, gesellschaftliche Ebene abstrahiert werden. So lässt sich der Roman - aus meiner Sicht - auch als Gesellschaftssatire sowie Antwort auf die Frage nach der „russischen Seele“ und den Möglichkeiten und Zielsetzungen von Veränderungen der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts lesen. In dieser Kombination von existenziellen und gesellschaftlichen Fragestellungen hat mir das Buch (trotz einer Lesezeit von 4 Monaten) unheimlich gut gefallen. Die urheberrechtsfreie Übersetzung von Hermann Röhl kann ich dabei - im Gegensatz zur älteren Übersetzung von Clara Brauner - uneingeschränkt empfehlen.