Unterhaltsame und authentische Zeitreise in das West-Berlin der 1970er Jahre! Ein lesenswerter Roman, der fast schon als Satire durchgeht.
„Die Architektin“ von Till Raether lässt uns hinter die Kulissen von einem der größten Bauskandale der Berliner Nachkriegsgeschichte blicken. Vorbild ist die einstige Star-Architektin Sigrid Kressmann-Zschach (1929-1990), einst auch die „schöne Sigi“genannt, die als charismatische Frau den Baufilz und den Klüngel im Berliner Westen der 70er Jahre aufmischte. Ihrem Geflecht aus Gefälligkeiten, Affären und Abhängigkeiten fielen ein Bürgermeister, ein Bausenator und der Präsident der Oberfinanzdirektion zum Opfer. Sie hinterlässt uns u.a. monströse Bau-Sünden wie den „Steglitzer Kreisel“ (im Buch als „Kegel“ bezeichnet) und das berühmte Ku‘Damm Karree. Ihr berühmtestes Zitat: „Männer, Geld und Häuser kann man nie genug haben“ dient Raether quasi als roter Faden durch die Story. Parallel gibt uns die Geschichte eines blutjungen Lokalreporters Einblicke in das zeittypische WG- und Studentenmilieu und das Erwachsenwerden in der damaligen Zeit. Hier finden sich einige autobiografische Züge von Raether selbst wieder, der auch beim Spandauer Volksblatt einst redaktionell debütierte. Durch seine große Sprachgewandtheit lässt Raether die „Frontstadt“-Atmosphäre von West-Berlin gekonnt wieder aufleben, die ich selber kennengelernt habe. Toll gemacht, mit kleinen Längen! Mir hat es gefallen! Auf dem auffälligen Cover finden wir im Übrigen nicht den Steglitzer Kreisel sondern den Steglitzer „Bierpinsel“, noch so eine Monstrosität im Berliner Südwesten der auch als „Brutalismus“ bekannten Architekturrichtung der 1960er und 1970er Jahre, die in vielen deutschen Städten hässliche Bausünden hinterlassen hat. Der Roman wurde übrigens 2023 ausgerechnet in Hamburg, wo Till Raether seit über 20 Jahren lebt, zum Buch des Jahres gekürt. Vielleicht auch , weil es so viele Parallelen zum aktuell größten Hamburger Bauskandal gibt, dem Bau des 245 Meter hohen Elbtowers, der auch als „Scholz-Tower“ bekannt ist. ;-)