17. Mai 2024
Bewertung:5

„Auch Liebesgeschichten lassen sich recyceln“

Ein Buch über ein Land, nein, ein Buch für ein Land. Das trifft es besser. Dieses Buch zeigt schonungslos die Realität Madagaskars, von der sich so mancher falsche Vorstellungen macht und doch ist man am Ende des Buches ein wenig in diese Insel verliebt, ohne zu wissen, wie das eigentlich sein kann. „»Nein«, sagte Biscuit und setzte die Griffe des Pousse auf den Boden, um die Hände frei zu haben zum Kämpfen. Er sah die rote Klingel. Er dachte an Terje. Er war ein freier Mensch. Er würde Hery nichts geben, er konnte alle Zahlen bis zwanzig schreiben. Und das Wort bald.“ Dieses Buch ist so viel mehr, als es vermuten lässt. Zwischen dem scheinbar geringen Platz zwischen den Buchdeckeln verbirgt sich eine Liebesgeschichte, eine Geschichte über Freundschaft, über eine Kultur und über das Leben an sich. Ich kann behaupten, es ist eines der wenigen Bücher, die etwas in mir nachdrücklich verändert haben. Man kann die Eindrücke nur schwer abschütteln und sieht das eigene Leben mit den Augen Madagaskars. »Er ist nicht mein Freund«, sagte ich leise. »Und er ist nicht mitgekommen. Er hat zu viel Arbeit.« »Das ist das Problem einer Menge Leute«, sagte sie. »In Eu-ropa. Sie jagen den ganzen Tag sich selbst. Europa ist erschöpft. Es war immer so effektiv, hat immer alle Löffel der Größe nach geordnet, verstehen Sie? Jetzt ist es müde. Und es beißt alle weg, die hinkommen wollen.« Für mich ist dieses Buch ein Schatz und ich empfehle es jedem, der Lust hat auf etwas anderes. Etwas schockierend Schönes. ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

Die Wiederentdeckung des Glücks
Die Wiederentdeckung des Glücksvon Antonia MichaelisDroemer eBook
25. Sept. 2023
Bewertung:4

4,5 Sterne "Man kann nach Madagaskar kommen und es vergöttern - seine bewaldete Küste, in denen die Lemuren morgens singen wie Wale, seine Lehmhäuser, die sich aus den Hügeln erheben wie Puppenhäuschen, seine duftende Vanille, seine merkwürdigen Fadys, die Gebote und Verbote der Ahnen. Seine fetthöckerigen, gutmütigen Zeburinder. Man kann nach Madagaskar kommen und es hassen - seine Waldbrände, die gelegt werden, um auch die letzten Wälder zu Reisfeldern zu machen. Seine Städte mit den verstopften Straßen, über denen Abgase wabern wie Wolken von Tintenfischtinte. Seine offenen Müllhalden, in denen Hunde und Menschen nach Essbarem suchen." Und wieder einmal habe ich mit „Die Wiederentdeckung des Glücks“ von Antonia Michaelis ein tolles Buch gelesen, welches ich ohne die Buchhändlerin meines Vertrauens vermutlich nicht gelesen hätte. Ich hatte zwar von der Autorin, aber noch nicht von dem Buch gehört und war deshalb wohl weitestgehend unvoreingenommen. Das Buch war zwar vielleicht kein Lebens-Lesehighlight, aber je länger ich darüber nachdenke und über die Rezension grübele, desto höher will ich es bewerten. Denn es ist definitiv ein Buch, das hängenbleibt, und das dank des grandiosen Erzählstils der Autorin, die mich aus dem kalten, nassen Januar in Mitteleuropa und aus dem Corona-Winterblues gerissen und auf die Insel Madagaskar vor die Süd-Ost-Küste Afrikas entführt hat, in ein anderes Klima, eine andere Kultur mit ihrem (Aber-) Glauben und ihren Fadys (Tabus/ Gebote/ Regeln, was man an bestimmten Orten oder zu bestimmten Zeiten, bestimmten Wetter zu tun, vor allem aber zu lassen hat.). Wir begleiten in diesem Buch Terje, einen Arzt aus Deutschland der mit 25 nach seinem Studium auf dem Fahrrad die Welt erkundet und dabei auf Madagaskar auf den vierjährigen Bisikileta (Biscuit) trifft. Diese kurze Begegnung hat für beide aus unterschiedlichen Gründen eine große Bedeutung, weshalb Terje nach ca. 15 Jahren zurück kommt und einige Zeit auf Madagaskar lebt und Biscuit wiederbegegnet. Nach der erneuten Rückkehr nach Deutschland war lange Zeit Funkstille zwischen den beiden Männern, bis Terje nun kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag von seiner Tochter Nora mit einer Reise nach Madagaskar überrascht wird. Allein der Prolog war schon grandios: vielversprechend, neugierig-machend, verlockend, verheißungsvoll … aber auch irgendwie auch desillusionierend. Die Sprache der Autorin hatte mich von Anfang an gepackt, so bildgewaltig, die Sinne anregend. Gleichzeitig aber auch ruhig erzählt, aber dadurch nicht weniger eindrücklich, so voller Farben und Bilder. Im Gegensatz zu anderen Rezensenten kam ich mit den unterschiedlichen Erzählperspektiven problemlos zurecht. Ich habe nie den Überblick verloren, an welcher Stelle der Geschichte wir uns gerade befinden. Noras Erzählperspektive hebt sich durch die Ich-Form in E-Mails an ihre Mutter von den anderen Erzählsträngen ab. Und immer, wenn wir von den aktuellen Ereignissen bei Terje und Biscuit in die Vergangenheit abtauchen wird das gut eingeleitet Wie ich schon angedeutet habe, gefällt mir an dem Buch nicht alles ausnahmslos gut. Es gibt Dinge, die feiere ich total, Dinge/ Personen, die ich nicht mag und Dinge, von denen ich vermutlich nie wissen werde, wie ich dazu stehe. Und letzteres betrifft vor allem die Liebesgeschichte, die hier erzählt wird. Viele werden wissen, dass ich Liebesgeschichten oft einfach nicht brauche, aber ohne diese Liebesgeschichte hätte das Buch für mich nicht funktioniert und da sie sehr fein und sanft, unaufdringlich und vor allem ohne Kitsch erzählt wird, kann ich letztlich wohl doch gut damit leben … bin ja kein Unmensch. Auch mit der teilweise sehr eindimensionalen Charakterisierung der Figuren war ich nicht ganz glücklich. Die Rollen, die sie im Buch spielen sollten waren mir zu vorherbestimmt. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass dies genau so beabsichtigt war, um die Unterschiede zwischen den Kulturen Westeuropas und Madagaskars, aber auch der verschiedenen Gesellschaftsschichten auf Madagaskar deutlich herauszustellen. Diese Eindimensionalität ist beim Antagonisten am deutlichsten ausgeprägt, dem sicherlich kein*e Leser*in etwas abgewinnen kann. Es gibt auch sicherlich Antagonisten, die ich leidenschaftlicher gehasst habe, als den Antagonisten in diesem Buch, aber er hat mir einmal zu viel dazwischen gefunkt. Da war ab einem bestimmten Punkt die Grenze für mich überschritten, wobei ich da aus Spoilergründen nicht näher eingehen kann. Aber dennoch feiere ich das Buch und die Autorin für die Bilder und Gerüche, die sie bei mir beim Lesen heraufbeschworen hat. Bilder und Gerüche, die nicht immer schön oder angenehm waren, dafür aber immer sehr eindrücklich. Und auch wenn die Figuren vielleicht ein wenig eindimensional sind, so feiere ich das Buch auch für die tolle Freundschaft zwischen zwei so unterschiedlichen Männern, denen allein durch ihre Herkunft so unterschiedliche Lebenswege vorherbestimmt sind und die sich trotzdem vor 45 Jahren kennengelernt und sich im Laufe der Zeit immer wieder gefunden haben. Und ich liebe das Buch für zwei kleine Nebenfiguren, die so eine tolle Konstante in dieser Geschichte sind. Ich hatte mehrfach das Gefühl, dass mich das Buch umarmt, trotz der schlimmen Lebensumstände von einem Großteil der madegassischen Bevölkerung. Die Liebe der Autorin – die viele Jahre mit ihrer Familie auf der Insel gelebt hat - für Madagaskar und die Menschen dort ist so tief spürbar, dass ich jetzt sogar mit dem Jugendbuch von Antonia Michaelis (Weil wir träumten) liebäugele, das Ende Januar 2022 erscheinen soll. Sie hat mich wirklich überzeugt und neugierig auf Madagaskar und die Menschen gemacht.

Die Wiederentdeckung des Glücks
Die Wiederentdeckung des Glücksvon Antonia MichaelisDroemer eBook