28. Sept. 2022
Bewertung:5

Angesichts der gestrigen Ereignisse fällt es mir nicht leicht, heute diese Rezension zu schreiben. Ich habe Bedenken, ob ich die richtigen Worte finde. Doch ich hatte die Rezension für den heutigen Tag geplant und das Buch ist leider seid gestern noch relevanter für die aktuelle Weltsituation geworden. Deutschland, 1998. Nach der Selbstauflösung der Rote Armee Fraktion (RAF) wird die Terroristin Martina Müller begnadigt. Ihre Tochter, die lange keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter hatte, steht nun vor einer schwierigen Aufgabe: Sie soll ihre entfremdete Mutter, deren Taten für sie selbst unbegreiflich sind, bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützen. Auch die Hinterbliebenen der Opfer eines Anschlags, an dem Martina beteiligt war, erfahren von der bevorstehenden Entlassung. Wie werden die Beteiligten damit umgehen? Wie wird Martina sich verhalten? Und ist eine Annäherung an eine Mutter möglich, die zur Mörderin wurde? Als Zweijährige habe ich den Deutschen Herbst natürlich nicht bewusst erlebt, doch ich kann mich gut an die allgegenwärtigen Fahndungsplakate in den Ladengeschäften meiner Kindheit erinnern. Es ist mir heute ein Rätsel, wieso ich mich später so wenig mit dem Thema RAF befasst habe und warum auch nach meiner Erinnerung das Thema auch im Schulunterricht nicht sehr ausgiebig behandelt wurde. Die RAF war eine der ersten Erscheinungsformen dieser neuen Art der Kriegsführung, des Terrorismus. (Tanja Kinkel hat es wie immer geschafft, dass ich schon während der Lektüre Wikipedia gewälzt habe, und auch “Der Baader-Meinhoff-Komplex” von Stefan Aust habe ich schon bestellt.) Tanja Kinkels Roman wechselt zwischen zwei Zeitebenen: erstens der Zeit, als Martina als Jugendliche erste Erfahrungen mit der Staatsgewalt machte, als Studentin in Kontakt mit Widerständlern und späteren RAF-Terroristen kam und schließlich selbst zur Terroristin wurde. Zweitens mit dem Zeitpunkt ihrer Entlassung aus der Haft. Martina ist eine idealistische Jugendliche, die zufällig bei einer Klassenfahrt Zeugin der Demonstration anlässlich des Staatsbesuchs des persischen Schahs wird, bei der der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Der Vorfall schlägt sich entscheidend auf ihr Weltbild nieder. Tanja Kinkel schildert eindringlich, wie weitere Ereignisse, die Durchsetzung der bundesrepublikanischen Justiz mit Altnazionalsozialisten und die Haftbedingungen für die gefassten RAF-Mitglieder Martina immer mehr zur RAF treiben, zunächst nur als Sympathisantin, schließlich als aktive Terroristin. Ihre beste Freundin Renate hingegen besteht auf Gewaltlosigkeit und wird später Mitglied der Grünen. Die Sorge um ihre Tochter, die Martina nach einem One-Night-Stand als junge Studentin bekommen hat, verzögert die Entwicklung zur Terroristin, kann sie jedoch nicht verhindern. Konfrontiert mit der Frage, ob sie weiterhin Teil des vermeintlichen “Problems” oder Teil der vermeintlichen “Lösung” sein will, trifft sie ihre Entscheidung. Die Denkweise der Terroristen, die Martina nun übernimmt, ist gekennzeichnet von der Entmenschlichung ihrer Opfer, diese sind keine Menschen, sondern “Schweine”, die die Missstände des Staates in Kauf nehmen und das System unterstützen. Die zweite Zeitebene ist einerseits geprägt durch den Mutter-Tochter-Konflikt, andererseits durch die schwierige Situation, in die Martinas Entlassung die Hinterbliebenen der Opfer bringt. Dabei steht auch die Frage im Raum, ob Personenschützer Steffen, der den Anschlag überlebt hatte, durch seine Verletzungen jedoch keine Erinnerung daran hat, der RAF möglicherweise einen Tipp gegeben hat, denn es ist nicht zu erklären, wie die Terroristen von der Änderung der geplanten Fahrtroute erfahren haben. Diese Möglichkeit quält Steffen seitdem. Schließlich kommt es zum Aufeinandertreffen von Martina mit dem Sohn eines der Opfer, das anders verläuft, als dieser es erwartet hatte. Auch die Frage nach dem vermeintlichen Tippgeber wird geklärt. Tanja Kinkel erzählt in gewohnt gut lesbarer Sprache die Geschichte einer fiktiven RAF-Terroristin und zeigt uns an ihrem Beispiel, wie ein idealistischer Mensch zum Terroristen werden kann. Deutlich werden dabei vor allem zwei Dinge: Eine “Vergebung” durch die Gesellschaft ist nicht möglich, nur eine Begnadigung. Nur die Hinterbliebenen der Opfer können vergeben, aber dies kann nicht von ihnen erwartet werden. Es gibt keine Rechtfertigungen für Terrorismus, nur Erklärungen. Gewalt und Terror sind nie die Lösung! Ich empfehle “Schlaf der Vernunft” allen, jedoch insbesondere als Einstieg in das Thema RAF für diejenigen, die sich bisher nicht viel damit befasst haben.

Schlaf der Vernunft
Schlaf der Vernunftvon Tanja KinkelDroemer Taschenbuch