
„Von dieser Welt“ ist so stark, dass man kaum glauben kann, dass dies 1953 Baldwins Debüt war! Noch immer sind seine Romane schmerzlich aktuell, und kaum einer lotet die Tiefen der menschlichen Seele so hinreißend und erschütternd aus wie er.
Nach „Giovannis Zimmer“ war meine Baldwin-Liebe bereits groß, vertieft hat dies der Essay Band „Von einem Sohn dieses Landes“ und nun ist meine Begeisterung mit „Von dieser Welt“ noch einmal gewachsen. Man kann eigentlich kaum glauben, dass dieser Roman sein Debüt war, so unheimlich gut ist er. Baldwins Sprache, die mit großer Kraft und einer ganz eigenen Melodie daherkommt, die Schärfe und Schönheit so wunderbar ausbalanciert, hat mich erneut komplett in ihren Bann gezogen. Dieses Mal ist die Wucht - fast möchte man von Pathos sprechen - die sie aufgrund der vielen religiösen Bezüge und der eingewobenen Bibelstellen, entfaltet, noch um einiges größer und teils wirkt „Von dieser Welt“ wie Baldwins ganz eigene Predigt. Aber Baldwin hat hier keine Mission, schon gar keine religiöse. Er schreibt um Gefühle zu sezieren, und um alle Facetten aufzufächern und auszuwringen, die sein Leben und das seiner Familie zu geben haben. Er portraitiert hier aber auch die nordamerikanische Gesellschaft im ausgehenden 20. Jahrhundert, ihre Zwänge, die Rassismen, und die allgegenwärtige Härte. In diesem autobiografischen Roman sind der junge John und der junge Baldwin nahezu deckungsgleich, und auch Johns Mutter, der Vater und die Tante tragen einige Züge von Baldwins eigener Familie. Die Art, wie man nach und nach mehr über sie alle erfährt, hat mich sehr meine Lieblingsromane „Dschinns“ und „Vatermal“ erinnert, besonders schön fand ich hier auch die Perspektiven der weiblichen Familienmitglieder, die nur einmal mehr zeigen (und das 1953), dass Feminismus nur intersektional gedacht Sinn ergibt, und der Kampf einer marginalisierten Gruppe auch immer Hand in Hand mit anderen gehen sollte, die systematisch benachteiligt werden. Hand in Hand und füreinander denkt man und schüttelt sich beim Blick ins Weltgeschehen. Von dieser Welt“ erzählt nur wenige, aber für John umso ereignisreichere Tage, darunter vor allem ein langer Gottesdienst - immer wieder unterbrochen von den Lebensgeschichten seiner Familienmitglieder -, dessen Dramatik sich nach und nach steigert. Teilweise hat man das Gefühl, dass sich die Gemeinde auf einem schaukelnden Schiff inmitten eines heftigen Sturms befindet, während ihr Gesang sie alle erhebt, oder zu Boden schleudert. Und ein Sturm ist es wahrlich, der sie alle und vor allem John durchrüttelt, aber auch die Lesenden. So eindringlich sind das Sehnen nach Zugehörigkeit, Akkzeptanz und Liebe, aber auch die Qualen, die ein Leben hinter einer falschen Fassade bedeutet. Der Preis, den das perfekte Bild und das Beugen vor den Erwartungen anderer mit sich bringen, ab auch das Auflehnen dagegen. Baldwins Figuren zahlen unterschiedlich, aber sie zahlen alle. Es haben schon viel klügere Menschen über Baldwin geschrieben, außerdem wage ich nicht zu behaupten, dass ich alle Bezüge und Bedeutungen des Romans verstanden oder ganz durchdrungen habe, aber das ist das Schöne bei Baldwin: Verstehen ist hier ein Bonus, das Glück ihn zu lesen ergibt sich unmittelbar über das Gefühl; über die Tragik der Geschichte, über die unglaublich starken Figuren und deren Schicksale, die einen nicht so schnell wieder loslassen. Baldwins Romane sind so lange nach ihrem Erscheinen noch immer schmerzlich aktuell und die Tiefen der menschlichen Seele lotet kaum einer so hinreißend aus wie er. Dieses Jahr wird definitiv ein Baldwin-Jahr.