
Ein ruhiger Ort mit orientalischem Flair – vielleicht in einem gemütlichen Teesalon, umgeben von warmem Kerzenlicht, dem Duft von Minztee und Kardamom. Oder noch besser: Auf einer Dachterrasse in einer Altstadt, irgendwo zwischen Damaskus und Marrakesch, wo der Abendwind durch die engen Gassen weht und man im Hintergrund das leise Murmeln der Menschen und das entfernte Spiel einer Oud hört. Ein Ort, an dem die Geschichte “Erzähler der Nacht” von Rafik Schami lebendig wird. Rafik Schami entführt uns mit Erzähler der Nacht in die magische Welt der orientalischen Geschichtenerzähler. Das Buch erzählt von Salim, einem Kutscher aus Damaskus, der seine Stimme verliert und nur durch das Erzählen von Geschichten wieder geheilt werden kann. Seine Freunde helfen ihm, indem sie ihm über mehrere Nächte hinweg Erzählungen schenken – und so entfaltet sich ein facettenreiches Netz aus Märchen, Legenden und Weisheiten, das nicht nur Salims Leben berührt, sondern auch das Wesen des Erzählens selbst beleuchtet. Doch Erzähler der Nacht ist weit mehr als eine Hommage an die mündliche Erzähltradition. Literarisch knüpft der Roman an die Struktur klassischer Rahmenerzählungen an, wie wir sie aus Tausendundeine Nacht oder Boccaccios Decamerone kennen. Schami nutzt das narrative Mittel der „eingeschachtelten Erzählungen“ (récits enchâssés), um eine Mehrstimmigkeit zu erzeugen: Die inneren Geschichten stehen nicht isoliert, sondern beeinflussen die Haupthandlung und reflektieren sie – ein Erzählprinzip, das Gérard Genette als zentrale Technik vielschichtiger Narrationen beschreibt. Dabei entsteht ein wunderbares Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität. Die Stadt Damaskus ist nicht nur Kulisse, sondern eine eigene erzählerische Instanz – ähnlich wie Istanbul in Orhan Pamuks Werken oder Dublin in James Joyces Dubliners. Durch Schamis poetische Sprache wird Damaskus lebendig: enge Gassen voller Gewürzduft, das Murmeln von Geschichtenerzählern in Teehäusern, der Klang von Hufgetrappel. Die Stadt erzählt mit. Ein zentrales Thema des Romans ist der drohende Verlust der mündlichen Erzähltradition. Salims Schicksal steht symbolisch für eine Kultur im Wandel – eine Reflexion über die Macht und Vergänglichkeit des gesprochenen Wortes. Literaturwissenschaftlich betrachtet bewegt sich Schami damit in der Debatte um die „sekundäre Oralität“, wie sie Walter Ong beschreibt: Die Schrift bewahrt die Erzählungen, doch sie verändert auch ihre Natur. Neben seiner kunstvollen Erzählweise greift Schami auch tiefgehende gesellschaftliche Themen auf: Migration, soziale Ungleichheit und das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne. Diese Motive erinnern an das italienische neorealistische Kino, insbesondere an Luchino Viscontis La Terra Trema, das soziale Mechanismen in poetischer Form sichtbar macht. Erzähler der Nacht ist ein Roman für Liebhaber orientalischer Literatur, aber auch für all jene, die sich für die Kunst des Erzählens begeistern. Rafik Schami gelingt es, klassische Erzähltraditionen mit modernen literarischen Techniken zu verknüpfen und eine Atmosphäre zu schaffen, die nachhallt – ein Buch, das nicht nur gelesen, sondern gehört werden will.