Eine Abrechnung mit sozialer Herkunft und Identität
„Ich schrieb, um zu existieren… Wenn ich es schaffe, einen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen… werde ich vielleicht endgültig, ein für alle Mal vor der Armut gerettet sein.“
Ich habe dieses Buch genauso geliebt wie „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon – und die Verbindung zwischen den beiden Autoren ist spürbar.
Louis erzählt radikal ehrlich von seiner Flucht aus Armut und Gewalt, von Scham, Ehrgeiz und der Sehnsucht nach einem anderen Leben. Seine Sprache ist klar und eindringlich, sein Blick unbarmherzig, aber auch voller Hoffnung.
Für mich ein beeindruckendes Buch über soziale Herkunft und Identität – fünf von fünf Sternen!
Ich würde empfehlen vorher "Das Ende von Eddy" zu lesen, um einige Aussagen des Autors in diesem Buch besser verstehen zu können.
Wieder ein sehr starkes Buch, auch wenn man fast nicht glauben kann, dass so viele Emotionen und verschiedene Leben in ein einziges passen sollen.
Mir hat es so gut gefallen, dass ich es an einem. Tag durchgelesen habe.
Was bedeute es, sich seiner „Klasse“ bewusst zu sein und zu wissen, dass das eigene Überleben nur möglich ist, wenn Mensch sich von dieser Herkunft verabschiedet und die Flucht nach vorne ergreift. Edouard Louis beschreibt in seinem autobiografischen Roman mit einer radikalen Ehrlichkeit die Herausforderungen dieser Flucht in eine neue Welt, in ein neues Leben, in ein neues sein. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie sehr lässt sich die alte Welt hinter einem lassen und wie stark trägt sie eigentlich trotzdem noch unser Dasein und unser Handeln.
Ein starkes Buch für Menschen, die wie Louis geprägt sind von ihrer Herkunft und ihrer sozialen Klasse und „ein besseres Leben“ schaffen wollen aber nicht immer schaffen können.
Ich bin wirklich begeistert!
Dieser Schreibstil ist einfach herausragend und damit auch zu erwähnen. Irgendwie ist es eine tragische Geschichte und behandelt ein sehr sensibles Thema in einer messerscharfen und präzisen Analyse, das es einem nur so graut.
Ich habe gelitten, ich hatte Angst vor jedem weiteren Einbruch und ich hatte Angst um „Eddy“.
Ich glaube dieses Buch ist nicht für jeden etwas aber mir persönlich hat es sehr viel gegeben. Ich habe mir viel markieren können, da der Autor eine gute Balance gefunden hat, zwischen seiner Geschichte und Erkenntnissen, die die Allgemeinheit betreffen. Ich bin sehr glücklich es gelesen zu haben und kann es wirklich nur empfehlen. Lasst euch von den ersten Prologen nicht abschrecken. Das dient einfach dazu dem Leser klar zu machen, wovon dieses Buch handeln wird und mit welcher Härte es zuschlagen wird.
⭐️⭐️⭐️⭐️
„(…) schon damals hatte ich ein klares Bewusstsein dafür, dass mich dieses Begehren von meiner Familie trennte, dass es meine Beziehung zu euch abfälschte und letztlich unmöglich machte.“
Zu schwul für die Gesellschaft und zu arm für das Leben. Als Édouard gerade mal ein Jahr alt wurde und gelernt hatte, wie man sich ausdrückt, kamen Fragen wie „Warum redet Eddy wie ein Mädchen? Er ist doch ein Junge? Warum bewegt er sich wie ein Mädchen? Warum fuchtelt er beim Reden mit den Händen? Warum schaut er den anderen Jungs hinterher? Kann es sein, dass er irgendwie ein bisschen schwul ist?“ entgegen. Diese Fragen prägen und beschäftigen ihn im Verlauf seiner Lebensgeschichte.
Neben der Scham über die eigene Herkunft, lernte Édouard Louis schon früh die extreme Armut zu spüren. Er bricht auf nach Paris und versucht sich seinen Traum zu erfüllen. Mit einer geballten Ladung Wut, Schmerz, Leid, Frust und Trübsinn beschreibt Édouard den realsten Kummer, den es für eine queeren Person geben kann.
Wer die drei anderen Bücher „Das Ende von Eddy“, „Wer hat meinen Vater umgebracht?“ und „Die Freiheit einer Frau“ gelesen hat, kennt wahrscheinlich jeden Schmerz, den Édouard durchmachen musste. Ich war total überrascht, dass mich dieses Buch so fesseln konnte, denn ich dachte alles gelesen und gehört zu haben, was Édouard Louis erlebt hat. Doch dieses neue Werk schaffte es nochmal alle Bücher zu überspitzen. Wir lernen Louis Werdegang in „Anleitung ein anderer zu werden“ neu kennen.
Die beste Freundin Elena und ihre Familie werden für ihn die Vorbilder. Dies zeichnet sich beim Essen, Reden, Lesen und das Interesse an das Kulturelle ab. Alles, was er gelernt hat, ist ihnen zu verdanken: er lernt sich neu zu kleiden, sich anders zu benehmen, sich selbst wiederzufinden. Bis er endlich Édouard wurde, erkämpfte er sich dieses neue Bild durch Schönheits-OPs und baut Distanz zu all den Menschen, die ihm im Wege standen. „Ich hätte den anderen gerne gesagt, dass es mir leid tat, dass ich gehen musste, weil ich keine Kraft mehr hatte zu kämpfen, dass es in Kauf nahm, sie zu verlieren, weil ich sonst alles verloren hätte.“
Als er Didier Eribon’s Sachbuch „Rückkehr nach Reims“ las, gibt er alles, um die Nähe des Autors zu finden. Er will ihn kennenlernen, er will befreundet mit ihm sein, aber vor allem wollte er einen Mentor haben, der ihm dabei helfen soll, das eigene Talent zu schöpfen. Was er eigentlich wollte, war Freiheit. Er wollte nicht mehr in Armut, Schmerz und Scham baden. Er wollte endlich Er selbst sein. „Die Gewalt der Welt zu hinterfragen, ist ein Luxus, den ich mir damals nicht erlauben konnte, ich musste vorankommen.“
Mit sehr vielen Hochs und Tiefs, erzählt Édouard Louis immer wieder mit einer vulnerablen Seite die Vergangenheitsszenen, denn sein „Leben war eine einzige Konzentrationsübung. Ich sprach konzentriert, lachte konzentriert, nieste konzentriert, aß konzentriert. Alles war eine Frage der Übung.“
„Ich wollte alles von mir verändern, und ich wollte, dass jede Entwicklung das Ergebnis einer bewussten Entscheidung war. Ich wollte, dass nie wieder irgendetwas ohne meinen Willen geschieht.“
WOWOWOW. This is my highlight of 2023 so far. I finished this book in one day just because I wasn‘t able to put it down. The writing style and the storyline really caught my interest from the first page. This book is just so raw and beautiful but devastating at the same time. The protagonist is addicted to improving himself and his life. The conclusion of this book is tragic and eye opening and I won’t stop talking about this book anytime soon.
Klare autobiografische Aufarbeitung des Autors. Sehr angenehmer Schreibstil trifft auf ehrliche offene (unangenehme) Reflexion.
Edouard beschreibt seine Motivation, seinen Drang für seine Abkehr von seiner ärmlichen Herkunft hinzu seinem jetzigen Leben (bürgerlich, bekannt).
Die absolute Notwendigkeit, das Alternativlose ist allgegenwärtig.
Selbst ausgebrannt, bleibt die Flucht nach vorne unvermeidlich.
Sein Handeln wirkt für mich manisch und das Schreiben ist ein Ventil.
Die Darstellung der verschiedenen Gesellschaftlichen Schichten Frankreichs (oder stellvertretend für andere Industriestaaten Europas) ist auf den Punkt.
"Ich sagte mir immer wieder, hier kannst du dich wenigstens ausruhen, der Kampf ist vorbei, du musst niemand mehr werden, hier kannst du einfach nur sein."
"Bin ich dazu verdammt, mich immer nach einem anderen Leben zu sehnen?"
"Ich sehne mich nicht nach der Armut zurück, sondern nach der Möglichkeit einer Gegenwart."
Eine berührende Lebensgeschichte voller Kämpfe und Anstrengungen, um der Armut, den Beleidigungen und der Ausgrenzung zu entfliehen. Eine Flucht und Metamorphose in ein scheinbar besseres Leben. Auf der Suche nach Glück, Liebe und Ich-sein, oft schmerzlich zu lesen.
Ein Buch was ich verschlungen habe, trotz schwerer Themen. Eddy ist als Homosexueller in Nordfrankreich in einem Dorf aufgewachsen, welches geprägt ist von Armut, harter Arbeit, Rassismus und Homophobie. Er schafft es ins Gymnasium in die nächste Kleinstadt, wird dort von der Familie seiner neuen Freundin Elena aufgenommen und verändert sich nach und nach. Verändert seine Sprache, seine Kleidung und seinen Namen. Doch nachdem auch die Kleinstadt zu klein wird, bewirbt er sich an eine Elitehochschule in Paris und wird angenommen. Er lebt seine Sexualität aus, schließt Freundschaften mit sehr wohlhabenden Menschen, verändert nun auch sein Äußeres und entfernt sich immer mehr von seinen Eltern und dem Dorf.
»Sie waren in einer anderen Welt als unserer aufgewachsen, und durch sie entdeckte ich nicht so sehr meine Klassenzugehörigkeit, denn die war mir im Prinzip immer bewusst gewesen, sondern, was meine Klassenzugehörigkeit konkret bedeutete.« (S.38)
In seinem neusten Buch »Anleitung ein anderer zu werden« schreibt der 1992 geborene Autor Èdouard Louis über seine persönliche und gesellschaftliche Veränderung von Eddy Bellegueule zu Èdouard. Der in extremer Armut aufgewachsene Autor verspürt nicht zuletzt aufgrund der erlebten Klassenunterschiede und Diskrimminierungserfahrungen ein intensives Verlangen, ein anderer werden zu müssen. Mit dem Wechsel aus das Gymnasium in Amiens beginnt die Transformation getrieben vom Veränderungswillen und Selbst(-er-)findungsprozess: Freundschaften und Bekanntschaften prägen diesen Prozess und verschiedene Freund:innen dienen ihm solange als Vorbild und Ziel seines Strebens bis sie vom nächst höheren abgelöst werden.
»Alle Leben zu leben, war meine Rache für die Tatsache, dass man mir bei der Geburt einen bestimmten Platz zugewiesen hatte.« (S.208)
Der Autor schreibt Passagen fiktiv an seinen Vater, führt Spiegelselbstgespräche und imaginäre Aussprachen mit zwei seiner zerbrochenen Freundschaft (Elena & Didier). Er geht dabei selbstkritisch und schonungslos mit sich selbst, seinen Gedanken, Streben und Verhalten ins Gericht. Die Passagen lesen sich dabei teilweise wie eine Danksagung, teilweise wie eine Entschuldigung an diese Personen, die er auf seiner persönlichen Transformation zurückgelassen hat.
Nach »Das Ende von Eddy« (2014), »Im Herzen der Gewalt«(2016), »Wer hat meinen Vater umgebracht«(2018) und »Die Freiheit einer Frau« (2021) ist »Anleitung ein anderer zu werden« (2022) das fünfte Buch des jungen französischen Autors, in dem er autofiktional über seine Herkunft, seine Familie, sein Leben und seine Entfremdung schreibt. In diesem Werk schreibt er darüber jedoch als Flucht und Abwendung von seiner Familie und Herkunft - angetrieben von Rache- und Schamgefühlen über seine Herkunft und erlebten Diskrimminierungserfahrungen aufgrund seiner Homosexualität.
Ein emotionales, sehr selbstreflektiertes und starkes Buch des Autors, das beeindruckend zeigt, wie viel persönliche Transformation kosten kann.
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[4.5/5]
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»They had grown up in a different world from ours, and through them I discovered not so much my class membership, for I had always been aware of that in principle, but what my class membership meant in concrete terms.« (own translation; p.38)
In his latest book, Instruction to Become Another, author Èdouard Louis, born in 1992, writes about his personal and social transformation from Eddy Bellegueule to Èdouard. The author, who grew up in extreme poverty, feels an intense desire to become someone else, not least because of the class differences and experiences of discrimination he has experienced. When he leaves the grammar school in Amiens, the transformation begins, driven by the will to change and the process of self-(discovery): friendships and acquaintances shape this process, and various friends serve him as role models and the goal of his striving until they are replaced by the next higher one.
»Living all lives was my revenge for the fact that I had been assigned a certain place at birth.« (own translation; p.208)
The author writes passages fictitiously to his father, having mirror self-talks and imaginary debates with two of his broken friendships (Elena & Didier). He takes a self-critical and unsparing look at himself, his thoughts, aspirations and behaviour. The passages read partly like an acknowledgement, partly like an apology to these people he left behind on his personal transformation.
After »The End of Eddy« (2014), »History of Violence«(2016), »Who Killed My Father«(2018) and »A Woman's Battles and Transformations« (2021), »Instructions for Becoming Another« (2022) is the young French author's fifth book in which he writes autofiction about his origins, his family, his life and his alienation. In this work, however, he writes about it as an escape and turning away from his family and origins - driven by feelings of revenge and shame about his origins and experiences of discrimination due to his homosexuality.
An emotional, very self-reflective and powerful book by the author, which impressively shows how much personal transformation can cost.
In seinem 4. - wieder autobiographischen- Roman beschreibt Edouard Louis seine Verwandlung von einem sozial komplett angehängten Leben in der Kindheit zum gefeierten Autor.
Ungeschönt und hart beschreibt er den Weg zunächst nach Amiens aufs Gymnasium, dann nach Paris. Zunächst versucht er durch Nachahmung in die bürgerliche Mittelschicht aufzusteigen, schließlich beschließt er , der nie auch nur ein Buch gelesen oder besessen hatte, Schriftsteller zu werden.
Ein schonungsloses und berührendes Buch.
Anleitung ein anderer zu werden" hat mich berührt und bedrückt. Es ist kein Buch zum Wohlfühlen, denn die angesprochenen Themen liegen schwer auf dem Herzen. Armut, insbesondere Kinderarmut, Diskriminierung, familiäre Entfremdung - das alles muss der Autor ertragen und versucht deshalb, ein Anderer zu werden.
Eddy ist ein zwiespältiger Charakter und das weiß er auch selbst. Sein Leben ist ebenso voller Rückschläge wie voller Erfolge, doch trotz der Erfolge kommt er einfach nicht an. Der Schreibstil des Autors ist sehr beeindruckend. Die Geschichte fließt dahin und erzählt in einem ruhigen Ton von allen Höhen und Tiefen. Dadurch lässt es sich sehr einfach lesen und der Inhalt wirkt nachhaltig nach. Man wird als Leser angehalten, sich Fragen über unsere Gesellschaft zu stellen, die niemand so einfach beantworten kann. Aus meiner Sicht ein schönes und bedrückendes Buch.
Immer wieder gibt es diese Bücher, die einem den Atem nehmen; die sich gleichermaßen wie eine wärmende Decke um einen legen und einem Tränen in die Augen treiben. Bücher, die einen nicht mehr loslassen, etwas bewegen, Gedanken weit über das Ende der Zeile hinaus provozieren.
Schon immer strebte er danach, ein Anderer zu werden, seiner Herkunft, die sich in Gestik, in Stimme und Haltung in ihm manifestiert hatte, zu entfliehen. Seinem Vater. Der Armut, der Scham. Er wollte Édouard werden, in Paris studieren und leben, aufsteigen. Frei sein, sich frei machen, ein gutes Leben führen. Doch diese Veränderung hat einen Preis. In "Anleitung ein anderer zu werden" (aus dem Französischen von Sonja Finck) beschreibt Édouard Louis reflektiert, ehrlich und ungemein vulnerabel, wie die letzten Jahre seit der Veröffentlichung seines Debütromans "En finir avec Eddy Bellegueule" und der damit verbundenen Bekanntheit, aber auch welche Personen ihn verändert haben. Aus einer gereiften, erfahreneren Perspektive blickt er zurück auf die Beziehung zu seinem Vater und Szenen seiner Kindheit, die er in seinen drei vorherigen Romanen bereits umriss, und erzeugt so ein Gefühl der Nähe, des „Eingeweihtseins“. Doch nun, Jahre später, ist im vieles klarer, so auch die Rolle seiner einstmals besten Freundin Elena, die ihm ein Vorbild war, seine Metamorphose begünstigte und unterstützte.
Gleichermaßen sehnsuchtsvoll, schambehaftend und ablehnend versucht er in einer fiktiven Ansprache an seinen Vater Distanz- und Fixpunkte zu definieren, um den Erfolg seines Bemühens, seine Herkunft abzulegen, zu objektivieren. Es sind Dinge, die er sich nie traute, ihm zu sagen, aus Angst, sie könnten ihn verletzen; „ich will nur, dass du es weißt, mehr nicht“ (S. 28); Dinge, die er sich im Schreiben immer wieder vergegenwärtigt, um sie zu verarbeiten und mit Abstand betrachten zu können: den Umgang mit Sexualität und Rassismus, seine soziale Klasse und seine Erziehung.
Erst durch seine Freundschaft zu Elena, einem wohlhabenden Mädchen am Gymnasium, das ihn zu sich nach Hause einlud, erkannte er: Was für ihn normal ist, was im suggeriert worden war, normal zu sein – Rauchen in der Wohnung, Essverhalten, von Geschwistern trübes Badewasser –, ist es in anderen gesellschaftlichen Schichten nicht. Er verbringt immer mehr Zeit im Kreise ihrer Familie, schaut sich ab, wie er zu lachen, sprechen, zu essen, wie er sich zu betragen hat. Wie er ein besserer Mensch werden kann. Er färbte seine Haare, begann, andere Kleidung zu tragen; Jahre später unterzog er sich mit der finanziellen Unterstützung seiner Geliebten einer Haartransplantation und umfassender Kieferchirurgie. Bis er endlich Édouard wurde.
In gewisser Weise sollten seine Begegnung mit Didier Eribon und dessen Autobiographie „Retour à Reims“ einen Punkt in seinem Leben markieren, an dem ihm bewusst wurde, was er wirklich will, wohin er will, dass er der sein kann, der er immer sein wollte. Er suchte seine Nähe, sehnte sich danach, von ihm zu lernen, wie er zu sein, talentiert und wohlhabend, und fand schließlich einen Freund in ihm, der ihn leitete, prägte und bei seinem Aufstieg weiterhalf. So hangelte er sich schließlich von einer Bekanntschaft zur nächsten, flog hoch und stürzte tief – und wie er dies so offen darlegt, sich seinem Scheitern und dessen Gründen komplett bewusst ist, das hat mein Herz wirklich berührt. Immer wieder springt er in diesen schwierigen Erinnerungen von der Vergangenheit in die Gegenwart, um eine „Pause zu machen“, schließlich ist es auch für ihn emotional belastend, all das aufzuarbeiten. Und immer wieder: Perspektivwechsel, kurze, schneidende Einwürfe, in denen er sich selbst anspricht, vor einem Spiegel stehend anklagt, um dann, um sich wiederum zu distanzieren, von sich selbst in der dritten Person redet, sich objektiviert. Der Raum zwischen den Zeilen voller Schmerz.
Könnte ich jemals solch drastische Maßnahmen ergreifen, um eine andere zu werden, meine Art zu sprechen, zu schreiben verändern, um mich meiner Herkunft zu entsagen? Ich glaube nicht, es würde sich komisch anfühlen, wie ein Schauspiel hinter geschlossenem Vorhang, das Skript noch in der Hand. Édouard jedoch, er spricht frei aus seinem Herzen, spricht mit all dem Willen und Mut, den es braucht, die Fesseln abzustreifen, mit all der Demut und dem Schmerz, den er erfuhr, und letztlich auch voller Respekt vor all den Menschen, die ihn zu dem machten, der er heute ist. Auch vor seinen Eltern, denn sie werden immer ein Teil von ihm bleiben, auch wenn in seinem Pass ein anderer als sein Geburtsname steht. Und wegen all dieser Aspekte, dieser tiefen Menschlichkeit, Offenheit, seine Geschichte in dieser Art mit uns zu teilen, bleibt sie für immer in meinen Gedanken. Magnifique, monsieur Louis!
„Anleitung ein anderer zu werden“ ist die Geschichte von Eddy der zu Edouard wird. Es ist die Geschichte eines Jungen, der in ärmliche Verhältnisse geboren wird, der von klein auf wegen seiner sexuellen Orientierung gemobbt und ausgegrenzt wird, der beschließt sein Leben und seine Persönlichkeit grundlegend zu ändern, um an allen Rache zu nehmen. Es ist die Geschichte eines bemerkenswerten gesellschaftlichen Aufstiegs, aber auch der späten Einsicht das Status, Macht und Äußerlichkeiten nicht glücklich machen.
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Eddy wächst in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich auf. Durch schauspielerisches Talent schafft er es aufs Gymnasium und damit auch ins Internat einer Kleinstadt, später dann auf eine Elite-Universität in Paris.
Er arbeitet hart, ja schon obsessiv, an seiner Veränderung, imitiert andere Personen, nutzt viele aus, um das zu erreichen, was er will. Er ist egoistisch, unreflektiert, will andere um jeden Preis davon überzeugen sich auch zu ändern und diese Tatsachen führten bei mir im Verlauf des Buches dazu, dass aus der anfänglichen Bewunderung und dem vorhandenen Mitgefühl für den Protagonisten, eine gewisse Antisympathie wurde.
Mit Anfang 20 hat er sein Leben radikal geändert. Neue Zähne, neuer Name, neue Frisur und die ein oder andere OP.
Durch seinen Lebensstil und den Drang unbedingt dazu gehören zu wollen, lebt er ein Leben in Extremen. An einigen Tagen lässt er sich aushalten von reichen Freunden, an anderen Tagen hat er nicht genug Geld für eine Mahlzeit.
Der Schreibstil ist sehr angenehm, die Erzählung durchaus spannend und der Autor schafft es verschiedene Gefühle mit dem Geschriebenen hervor zu rufen, leider nicht nur positive. Die Erzählung ist in den Grundzügen autobiographisch, was nochmal mehr dazu führt, dass die ein oder andere Szene ordentlich schockiert.
So berichtet er bspw. von der sexuellen Nötigung seiner Schwester durch einen LKW-Fahrer, aber anstatt das zu verurteilen, wünscht er sich, dass es ihm passiert wäre, damit er Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht sammeln kann. Dies finde ich auf mehreren Ebenen schwierig, da es zum einen zeigt, dass er dringend Hilfe benötigt hätte oder immer noch benötigt und zum anderen bagatellisiert er sexuelle Übergriffe, stellt sie gar als etwas Gutes hin und das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für alle Betroffenen.
Ebenso finde ich seine generelle Einstellung gegenüber der Arbeiterschicht schwierig. Er geht ganz natürlich davon aus, dass jeder Mensch sich hocharbeiten will, dass man in der Arbeiterschicht nicht glücklich sein kann und gibt seinen Eltern die Schuld daran, dass er dort aufwachsen musste. Er stellt es teilweise so hin, dass seine Eltern den Aufstieg nicht gewagt haben, nur um ihn zu ärgern.
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Alles in allem fand ich es ein gutes Buch, dass sehr eindrücklich beschreibt, wie weit ein Mensch bereit ist zu gehen um sich abzugrenzen. Ein bisschen mehr Reflexion hätte aber sicher nicht geschadet.
Er erzählt, wie er versucht, die Vergangenheit seiner Kindheit nicht nur hinter sich zu lassen, sondern sich symbolisch an seiner Familie, an seinem schulischen Umfeld, dem ganzen Dorf, in dem er aufwuchs, zu rächen. Dafür, dass er nie sein durfte, wer er wirklich war.
Die Suche nach seinem neuen Selbst führt ihn zunächst nach Amiens, wo er Freundschaft mit Elena schließt und zum ersten Mal mit seinem neuen Namen angesprochen wird. Mit ihrer Hilfe sowie der ihrer Familie, ändert er zunächst sein Äußeres, aber viel wichtiger noch sein Inneres. Er möchte sich komplett freimachen vom Dorfleben, vom Leben ohne Kunst und Bücher, von mangelnden Tischmanieren, seiner hohen Stimme. Seine Homosexualität hält er weiterhin geheim, doch diese Geheimhaltung ist es auch, die ihn nicht weiterkommen lässt.
Ein Vortrag des Schriftstellers Didier Eribon öffnet ihm die Augen und gibt ihm einen kurzen Einblick in die Welt der Pariser Bourgeoisie. Plötzlich ist ihm selbst Amiens nicht mehr Stadt genug und er setzt alles daran, an der Eliteuniversität École normale superieure aufgenommen zu werden. Dass er dabei mit alten Freundschaften brechen muss, scheint ihm egal zu sein.
Édouard Louis schreibt mit seinem Buch nicht nur ein Stück seiner Geschichte, sondern auch einen Teil seines Seelenlebens nieder. Dabei reflektiert er aus der Gegenwart sein vergangenes Verhalten und seine damaligen Bekanntschaften, sein Streben, sich immer neu zu definieren. Wie schon seine bisherigen Bücher ist auch dieses faszinierend und erschreckend zu gleich; dabei wundervoll geschrieben.
Übersetzung von Sonja Finck.