Ein Buch über das Entstehen der Liebe zu einem Kind, wie wird man zum Elternteil.
Ein ungewöhnliches Buch, eine „wahre“ Geschichte, vielleicht kein Roman, denn das Wort „Roman“ ist durchgestrichen, wie auch viele weitere Begriffe und ganze Sätze. Es gibt vorab eine Beschreibung von „wahren“ aus dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Ulrike Draesner hat das gut gewählt, ist „wahren“ ein vielseitiges Wort und kann verschieden genutzt werden. Für mich wahrt sie die Erinnerung an das Erlebnis, Mutter zu werden, sie hütet die Erinnerung daran und steigt somit schon vor Beginn des Buchs ein ins Erzählen ihrer Geschichte. Jeder Satz hat eine Bedeutung und ist nicht nur dahinerzählt. Es gelingt ihr von Anfang an die Stimmung und Unsicherheit zu beschreiben. Wie belanglos wirkt es, dass sie von Katzenzungen und ihrer Oma erzählt und zeigt doch damit dieses typische Verhalten in einer Situation, die einen Menschen emotional komplett überfordert, eine Art Schockzustand, in dem man noch funktioniert, aber nicht immer klar denken kann als Schutzmechanismus. Was das Buch eindeutig auszeichnet – neben der Erzählkraft – ist das Teilen eines solchen Gedankens. Dieses Wünschen und gleichzeitig die Angst davor, dass es ganz anders ist als gedacht, dass man versagt, dass Kind nicht glücklich wird oder keine Bindung entsteht und was auch immer für Ängste es gibt. Ulrike Draesner legt keinen verdeckenden Schleier über ihre Gedanken, sie ist ganz direkt und teilt ihre Gefühle. So gibt es die Momente kurz vor der Übergabe des Kindes auf Sri Lanka, wo feststeht, dass sich das Mädchen noch nicht an Ulrike Draesner gewöhnt hat und es nicht klar ist, wie es während der richterlichen Anhörung reagieren wird. Sie beschreibt auch das Gefühl des Unterlegenseins, denn Hunter, ihr Mann, scheint schon mehr von Mary akzeptiert zu werden. Als Lesende spüren wir wie es an der Autorin nagt, zumal die Zeit auf Sri Lanka das Paar nicht näher zusammen bringt. Eine Adoption ist ein Prozess, der – wenn der Zeitpunkt da ist – eine Elternschaft im Zeitraffertempo bedeutet. Es ist eine kurze Vorbereitungszeit, auch wenn die zukünftigen Eltern sich schon viele Gedanken vorher machen, aber es ist ja immer diese Unsicherheit da, ob es eine Adoption geben wird. Und wenn dann plötzlich der Fall eintritt, geht alles holterdiepolter und das ganze Leben ist von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Doch wie entwickelt sich die Liebe der Eltern, in diesem Fall besonders die Mutterliebe? Der Körper bereitet nicht zehn Monate mit einer konstanten Erhöhung der Hormone vor, es ist ein etwas längerer Prozess, der gegenläufig zur Schnelligkeit der Verkündung der Nachricht und der Adoption ist. Das Kind bringt eine Vorgeschichte mit und bei der Adoption eines Kindes, das ganz offensichtlich anders aussieht als die Eltern, kommen noch weitere Momente hinzu, mit denen das frischgebackene Elternpaar nicht gerechnet hatte. Es erkennt, dass sie bislang in der Blase der „Weißen Blindheit“ gelebt haben und entdecken jetzt „… das Deutschland der Blicke, die man abbekommt, wenn man mit einem andershautfarbigen Menschen an der Hand spazieren geht.“ Sie beschreibt, wie distanzlos und übergriffig das Kind oft einfach gefragt wird, wo es denn herkommt und dass die Großeltern überlegten, ob es denn ein wirkliches Enkelkind ist, so ein ein adoptiertes Kind. Es ist viel unbewusst zugefügter Schmerz in diesem Buch, der vielleicht denjenigen, die ihn zufügen, nicht bewusst ist. Das Buch geht um die Adoption eines Mädchens aus einem anderen Land, aber das wäre zu einfach. Es geht darum, wie sich Mutterliebe, wie sich Elternschaft entwickelt. Wie wird man ein Elternteil, wie und wann beginnt man, sein Kind zu lieben? Woran macht man es fest? Und welche Fallstricke gibt es? Was ist mit der Bürokratie, was ist mit den Mitmenschen, was ist mit dem Päckchen Vorleben, das das Kind mitbringt? Zweifel sind immer dabei. Ulrike Draesner beschreibt ihren Weg dorthin, ungeschönt in schönen Worten. Es ist ein gemeinsamer Weg mit dem Kind zusammen, denn auch das Kind oder besser besonders das Kind macht sich dadurch, dass es adoptiert wird, auch auf den Weg, in der Familie anzukommen und im besten Fall die Zuneigung zu erwidern, zu lieben. Es ist kein Buch, das ich schnell gelesen habe. Zum einen gibt es diese Satzgebilde, die ich zwei-, dreimal oder noch häufiger gelesen habe und dann natürlich die Geschichte, die persönlichen Erfahrungen, das Teilen des Erlebten. Das hat ein bisschen gebraucht, um es auch zu verarbeiten und darüber nachzudenken, denn es ist schon sehr persönlich und es war nicht immer leicht, in so persönliche Bereiche hineinzulesen, zumal es auch um die Partnerschaft geht, die zerbricht. Es sind viele Gefühle und doch oder gerade deshalb ist es ein ganz wunderbares Buch über die Liebe, wie sie entsteht und wächst.