Das spannendste Buch meines Lesejahres 2024 habe ich mit „Doppelgänger“ tatsächlich in der letzten Woche des Jahres gelesen. Ein gefährliches Spiel mit der Realität treibt Klimaaktivistin Naomi Klein mit einer Doppelgängerin, die unheimlicher nicht sein könnte - sie ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten und sogar ihr Vorname ist gleich: Naomi (Wolf). In unserer politisch anspruchsvollen Gegenwart zeigt sie uns die Grenzen der Demokratie auf, beweist die Relevanz, die KI schon heute für unser Leben hat, spielt mit Verschwörungstheorien und Querdenkertum, lässt uns aber vor allem über Identität nachdenken. „Missbrauch gedeiht in den Schattenzonen, weil er dort gedeihen kann. Und das muss mit Hilfe einer Verschwörung vertuscht werden, um nicht nur die Täter zu schützen, sondern auch uns als Konsumenten, die wir uns unsererseits miteinander verschwören, um unwissend und unschuldig durch die besser beleuchteten Bereiche der Versorgungskette schlendern zu können.“ Aber was macht denn nun die Verwechslung von Naomi Klein mit Naomi Wolf zu einer pikanten Angelegenheit?! Naomi Wolf erlangte Bekanntheit in ihrer Rolle als Israel- und Globalisierungskritikerin, veröffentlichte einst den feministischen Klassiker „Der Mythos Schönheit“ - driftete jedoch zu Coronazeiten in die rechte Aluhut-Querdenkerszene ab. Naomi Klein nimmt nun sich selbst und ihre Doppelgängerin unter die Lupe, übt sich in Selbstkritik. Ist das heutige „woke“ Denken vieler Linker eher marxistisch oder klassisch zu betrachten? Für mich habe ich ihre Antwort auf diese Frage zwischen den Zeilen herausgelesen - sie ist eher dafür, als Linke die soziale Frage neu zu stellen und rät mehr oder minder von „woker“ Identitätspolitik ab. Thematisch zeigt sie Ambivalenzen auf, wie beispielsweise in Bezug auf den Kapitalismus und den Arm-Reich-Gegensatz, aber als BDS-Anhängerin geht sie auch auf das aktuelle Leid der Palästinenser ein. Mit hat Klein vor allem die Problematik von Polarisierungen vor Augen geführt - sie richtet einen „Appell zur Komplexitätserhöhung“, was ich einen sehr wertvollen Ansatz finde, den sie an der einen oder anderen Stelle noch beherzter hätte umsetzen können in „Doppelgänger“. Was ich Euch aber auch nicht verschweigen möchte, sind die aktuellen Debatten rund um dieses Buch. Einige Kritiker*innen ordnen manche Aussagen der säkularen Jüdin Naomi Klein bezüglich des Israelkonflikts als problematisch ein - macht Euch hierüber bitte ein eigenes Bild. Ich beschäftige mich gerade viel mit der Thematik, sehe mich aber (noch) außerstande hierzu gerade versiert und vollumfänglich Stellung zu nehmen - alles andere fände ich aber der Autorin gegenüber unfair. Hier mal eine Aussage von ihr zu den Kriegen im Nahen Osten und dem Israel-Palästina Konflikt: „In diese Geschichte sind wir alle verstrickt, wo auch immer wir leben. Sie begann im Vorfeld der Inquisition mit Folterungen, Verbrennungen und der Vertreibung von Muslimen und Juden; setzte sich mit der blutigen Eroberung des amerikanischen Kontinents und der Plünderung Afrikas fort, wo man sich Reichtümer aneignen und menschlichen Treibstoff für die neuen Kolonien beschaffen konnte; verwüstete Asien im Zuge der Kolonialisierung und kehrte dann nach Europa zurück, wo Hitler die in den vorausgehenden Geschichtskapiteln entwickelten Methoden – wissenschaftlicher Rassismus, Konzentrationslager, Völkermord in den neuen Siedlungsgebieten – zu seiner Endlösung destillierte.“ Mein persönliches Fazit: „Doppelgänger“ ist mit Abstand das spannendste Buch, das ich seit längerem gelesen habe - thematisch spielt es auf so vielen Hochzeiten und mit Themen, die aktueller nicht sein könnten. Durch die Lektüre bin ich motiviert, mich noch mehr mit den Themen unserer Zeit auseinanderzusetzen - wie stehe ich zu Klimaaktivismus? Was ist meine Haltung bezüglich des Israel-Palästina Konflikts? Aluhut - auf oder ab? KI - Segen oder Fluch?! „Doppelgänger“ war für mich eine Initiation zur Selbstbefragung - sollten die angesprochenen Themen auch Euch bewegen, kann ich Euch die Lektüre nur wärmstens empfehlen!