26. Apr. 2025
Bewertung:1

Ich weiß auch nicht…

Komisches Buch. Vermutlich würde jemand, der besonders intellektuell wirken möchte, dieses Buch mögen, aber ich habe mich wie in der 10. Klasse im Deutschunterricht gefühlt, wo man Texte lesen musste, die literarisch zwar wertvoll, aber eben auch so kompliziert geschrieben waren, dass man sie nicht verstanden hat. Zum analysieren und interpretieren eignet es sich ganz hervorragend, aber als Unterhaltungslektüre eher nicht.

Rot (Hunger)
Rot (Hunger)von Senthuran VaratharajahS. FISCHER
22. Juni 2024
Bewertung:5

Ein verstörendes Meisterwerk, das dem Leser einiges abverlangt 🤩⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️🤩

„Rot [Hunger]“ des Autors Senthuran Varatharajah ist 2022 bei S. Fischer erschienen und behandelt die Geschichte um den Menschenfresser, bzw. Kannibalen aus Rotenburg a.d. Fulda. Mein Interesse an diesem Buch begründet sich durch meine Heimatnähe (10km) zu dem Tatort Wüstefeld, nähe Rotenburg an der Fulda, ich hatte Zwiespältiges und Schauerliches gehört deswegen hat es bis 2024 gedauert bis ich das Buch zur Hand genommen habe. Wichtig vorweg zu sagen ist, dass es bei diesem Buch nicht um Moral geht, sondern um Erkenntnis. Der Autor setzt am Anfang: „Dies ist eine Liebesgeschichte.“ Eigentlich sind es zwei Liebesgeschichten, wenn man auf der Stoffebene bleibt. Es gibt zwei Materialkreise. Der eine Materialkreis handelt von zwei Männern, die sich in einem Forum kennengelernt haben, von denen der Eine sich wünscht von jemand anderem gegessen zu werden und der Andere nach jemanden sucht, den er essen darf. Das Ganze ist ein historischer Fall unter der Schlagzeile „Kannibale von Rotenburg“. Diese „Liebesgeschichte“ der beiden Männer wird auf der einen Ebene erzählt und auf der anderen Seite handelt der andere Materialkreis von einer Figur namens Senthuran, in einem kosmopolitischen Freundeskreis und erzählt die Geschichte von einer Trennung von einer Frau, die nur indirekt benannt wird. Es wird an einer Stelle gesagt, sie heißt wie der erste Buchstabe des arabischen Alphabets, also Elif. Es gibt verschiedene andere Frauen, die auftauchen und es wird die Geschichte der Trennung von dieser Frau erzählt. Man könnte sagen, es ist eine Geschichte, die von Liebe handelt, die an verschiedene andere Texte anschließt, an eine Erforschung des Sprechens über Liebe, über die Möglichkeit von Liebe, über Einsamkeit. Man könnte auch sagen, der Text handelt von Gewalt, er handelt von gesellschaftlicher Einsamkeit. Ich würde aber sagen, dass er letztendlich ein Versuch ist ein Verhältnis zur Sprache zu finden. Es gibt einen ganz zentralen Satz in diesem Buch: „Die Suche nach einer Sprache, die nichts zeigt und die nichts verbirgt.“ Also die keine Absicht hat und die trotzdem die absolute Nähe ermöglicht - das ist was diesen Text für mich so spannend macht. Nämlich dass auf diesen beiden verschiedenen Stoffebenen es eigentlich immer darum geht, dass man eigentlich keine Möglichkeit hat, an sich selbst ranzukommen, weil einem die Ausdrucksmöglichkeiten dafür fehlen. Das spielt er auf verschiedenen Ebenen fantastisch durch - ständig sind da Sätze, über die ich Wochen nachdenken kann. Eigentlich ist der Text nicht brutal. Er erzählt was passiert ist, mit Zitaten über die Korrespondenz der beiden Männer. Er macht das ganz sachlich, es ist überhaupt nicht skandalisierend, darum geht es ihm nicht. Ich glaube, das was man als brutal empfinden könnte, ist wirklich das Körperliche, was man hier immer wieder spürt. Beim ersten Lesen hatte ich eine körperliche Reaktion - es ist sehr schwer diesen Text zu lesen. Und beim zweiten Mal hatte ich schon einen größeren Abstand. Und um Abstand geht es ja auch immer wieder. Ich glaube, das dieser Text die Schönheit einer mathematischen Formel hat. Es gibt zwei Mal zwölf Kapitel, es gibt Verse, die parallel geführt werden. Man könnte denken, es hat was mit der Struktur von Psalmen zu tun, es geht immer wieder um Lieder, es wird das Heilige und das Profane zusammengeführt. Er stellt sich auch selbst in Traditionen von Autor*innen wie Herta Müller zum Beispiel. Was die existenzielle Auseinandersetzung mit Buchstaben, mit Wörtern angeht usw. Und ich glaube wirklich, dies ist ein Text - und darum ist es gar nicht erstaunlich, warum man damit anfänglich nur schwer zurechtkommt- mit dem man sehr viel Zeit verbringen kann und auch muss. Man kann diesen Text nicht sofort beurteilen, das ist ein Text, den man sich erarbeiten muss. Es ist etwas, was sehr viel Aufmerksamkeit erfordert, was sehr neu ist, was teilweise auch als obszön oder gewalttätig erscheinen mag. Aber ich glaube hier ist jemand unterwegs große Kunst zu schaffen. Dieses Buch hat einen formalen Kniff, nämlich ein leeres Zentrum. In diesem Zentrum befindet sich die Reproduktion von zwei Gemälden, die er in Auftrag gegeben hat bei einem Maler, die ein jeweils rot-schwarzes Bild zeigen. Das alleine schon fand ich doch eine sehr mutige Geschichte. Das ist genau, was mir in unserer Erzählliteratur fehlt, der Mut auszuscheren, mal sich was neues zu überlegen. Und natürlich kann man sagen, das sind Tricks der Moderne, die haben wir alle schon mal durchdekliniert - aber so ein Text, der mir derart unter die Haut ging, der mir so oft eine Neulektüre abverlangte, mit dem ich immer noch nicht abgeschlossen habe - an solche Bücher gerät man doch ziemlich selten. Das Literarische und das Kannibalische folgen einer ähnlich Sehnsucht, nämlich der einer Fleischwerdung des Wortes, fast schon im christlichen Sinne. Der Autor spielt immer wieder auf das Abendmahl an, wenn Jesus hier am Tag vor seiner Kreuzigung sagt: „Ich breche mein Brot, hier ist mein Leib,..“ (ich glaube das ist nach seiner Wiederauferstehung). Und es ist eine Anspielung auf die Liebenden in dem Moment, als es auch um die Inkorporation geht - es geht um die Frage, wie die Worte diese Leiblichkeit erreichen. Hier erkennt man die Radikalität des Autors, seinen Formanspruch. Es geht um etwas aus dem Sprachspiel, aus dem Religiösen heraus destillierten. Das ist die Sehnsucht nach Transzendenz, nach der Begegnung in der Liebe und so kommt die Liebesgeschichte zwischen der Tamilen und dem Kurden ins Spiel. Es ist die Liebe zu Gott, die Liebe einer transzendenten Verschmelzung. Und das ist so radikal, aber formal so zwingend erzählt, dass ich sagen muss: Wow - in der deutschen Gegenwartsliteratur kommt es nicht alle Jahre vor, dass mir so ein Text in die Hände fällt. Das sollte man uneingeschränkt rühmen meiner Meinung nach. Das Erstaunliche was diesem Text gelingt, ist eine Umkehr: In der Boulevardpresse haben sie immer den Kannibalen als Täter dargestellt, der sein Opfer auffrisst. Dieser Text macht aber das vermeintliche Opfer zum Täter, das seinen Willen durchsetzt. Ich habe mich bei der Lektüre erschrocken, aber ich erschrecke mich öfters, dafür ist ja Literatur da - in meinen Augen hat Senthuran Varatharajah mit „Rot [Hunger]“ ein Meisterwerk geschaffen.

Rot (Hunger)
Rot (Hunger)von Senthuran VaratharajahS. FISCHER