4,5/5 „Es sollte einfühlsame Aufklärung sein, für eine Generation, deren Eltern über Sexualität nicht zu sprechen wussten und die sich stattdessen Woche für Woche in Leserbriefen an die »Bravo« wandten.“ (s.88) Über Sexualität wurde in den siebziger und achtziger nicht gesprochen. In Carolin Emckes Jugend war kein Platz für Begriffe wie ‚Begehren‘ oder ‚Lust‘, ganz zu schweigen von den Arten der Lust. Wie hilft man seinen Mitschüler_innen, die in Not und Verzweiflung an den Rand gedrängt werden, ohne Grund und die dann am Ende doch daran zerbrechen? Wie findet man zu sich selbst in einer Form, die gerecht für die heteronormativen Welt ist? Und zu recht stellt sich Carolin Emcke die Frage, wie frei sind wir, unser Begehren zu leben? Mein erstes Buch von Carlin Emcke das ich gerne gelesen habe und ein Buch, das viele Fragen auf den Tisch aufwirft. Spannende Suche nach der Identität und die Mittel des Begehrens in einer Welt, in der Homosexualität noch ein tabu Thema ist. Sehr klug verfolgt sie im Buch einen für sich gefundenen roten Faden, den sie im Musikunterricht gelernt hat. Sie zieht parallelen von der Sexualität mit Aspekten der Musik. Ab ihrem 26. Lebensjahr begehrte Emcke erst Frauen und bereut ihr Begehren zu Männern früher nicht. Interessant wird es als sie in Gaza Ibrahim kennenlernt, der für sie eindeutig als homosexuell zu lesen scheint. Er selbst wusste aber von dem eigenen Begehren zu Männern nicht. Soll sie ihm sagen, dass er anders wirkte als andere Männer? Soll sie ihn retten? In Gaza gilt immernoch die Homosexualität als Sünde und wird bestraft! Am ende des Buches gibt Carolin Emcke kluge Argumentationsgrundlage für eine homosexuelle Ehe bzw. Ehe für alle. „Manchmal sehne ich mich danach. Dass ich jemandem sagen kann: Ja, ich bin lesbisch oder schwul, ja, es ist richtig, das in mir zu sehen, aber es ist eben nur eine Weise, mich zu betrachten. Sie ist nicht falsch, sie stimmt, ich erkenne mich darin auch wieder, aber es ist eben nur eine Deutung, in dem Bild ist auch noch anderes zu erkennen, wenn nur die Bereitschaft zum offenen Betrachten da ist, wen die Bereitschaft da ist, mich auch als etwas anderes zu sehen.“ (s.242)
Das Buch ist anspruchsvoll und gleichzeitig fesselnd. Wie Karolin Emcke die Seiten des Begehrens, die Diversität von Liebe, Zuneigung und Sexualität auf den Punkt bringt ist einfach grandios. Es ist eine Lektüre, die jedem Menschen - egal wie tief im Thema sexuelle- und geschlechtliche Vielfalt drinnen - den Horizont erweitert. Es ist ein höchst persönliches Buch über Liebe, Zuneigung und Sexualität. Ich bin beeindruckt wie Emcke ihren eigenen roten Faden durch das Buch gefunden hat, das dem Leser*innen die verschiedenen Dimensionen (Persönlich, Fachlich, Historisch, Literarisch) in einem wohl-temperierten Verhältnis immer wieder in die Hände legt. Der immer wiederkehrende Bezug zu einer tragischen Geschichte aus Emckes’ Jugend und musiktheoretischen Vergleichen macht einfach Spaß.