Popkultur at its best.
Wer David Mitchell schon gelesen hat, hat natürlich eine grobe Ahnung, was einem in seinen Romanen erwartet. Umso gespannter war ich, wie die Geschichte über eine Rockband in den 1960er Jahren in seinen üblichen Stil passt. Wir begleiten vier junge, begnadete Musiker*Innen auf dem Selbstfindungsweg, sowohl musikalisch als auch im Leben im Allgemeinen. Quasi zusammengewürfelt gründen sie die Band "Utopia Avenue" - ein Name, der mir direkt zugesagt hat. Vordergründig beschreibt der Roman, genau wie beim Klappentext angekündigt, den Weg dieser jungen Band zum Erfolg, der - wie sollte es auch anders sein - keineswegs geradlinig verläuft und die typischen Probleme einer rasanten Karriere mit sich bringt. Die Geschichte wird abwechselnd aus Sicht der einzelnen Bandmitglieder geschildert und beschreibt (nach meinem Laienverständnis) sehr interessant den kreativen Prozess hinter den Liedern der Band. Das ist der eine Teil, in dem (Rock-) Musikliebhaber auf ihre Kosten kommen. Der zweite ist die mühelose Verflechtung Mitchells zwischen Realität und Fiktion, die sich in diesem Roman durch haufenweise Gastauftritte berühmter Musik und Showbizlegenden der späten sechziger Jahre ausdrückt. Ich habe es sehr genossen, viele der Musiker, die ich sehr gerne höre, in der Geschichte auftauchen zu sehen. Durch diese Cameos bekommt man außerdem das Gefühl, kein fiktives Werk zu lesen, sondern eine Nacherzählung von Tatsachen. Fasst vergisst man, dass Utopia Avenue nie existiert hat. Ich war mehr als einmal traurig, dass ich mir die LPs der Band nie wirklich anhören kann, denn ich wäre sehr neugierig auf den Sound der Band. Die vier (eigentlich drei) Perspektiven dieses Buches aus der Sicht der verschiedenen Bandmitglieder haben mir insgesamt gut gefallen, wenngleich sie auch von wechselnder Qualität waren und mitunter etwas wie Füllmaterial wirkten. Der für mich mit Abstand stärkste Storyplot ist der des Gitarristen Jasper de Zoet. In diesem lässt Mitchell seine zweite große Stärke, die tadellose Verflechtung der Realität mit dem Übersinnlichen, ausleben. Dem geneigten Mitchell-Leser wird bei der Erwähnung des Namens "de Zoet" ein Licht aufgehen und damit kommen wir zu der zweiten "Handlungsebene" des Romans, der Verknüpfung sämtlicher von Mitchells Geschichten in einer Art Buchuniversum. Diese tritt in diesem Buch verhältnismäßig spät auf, hält aber das eine oder andere sehr schöne Easteregg bereit. Das gibt dem Buch eine tiefere Bedeutung. Nichtsdestotrotz wirkt die Geschichte trotz ihrer über 750 Seiten an einigen Stellen seltsam sprunghaft, da stets nur Episoden aus der Bandgeschichte erzählt werden und es insgesamt vier Perspektiven zu füllen gibt. Längen hatte das Buch für mich persönlich keine. Dafür stimme ich mit dem (etwas vorhersehbaren) Ende nicht überein und es hinterlässt bei mir einen leicht faden Beigeschmack. Trotzdem eine dicke Empfehlung für jeden, der entweder die 1960er und deren Musik liebt oder einfach gerne David Mitchell liest.