9. Mai 2023
Bewertung:4

London, 1988: Der 28-jährige Historiker Saul Adler möchte mit seiner Freundin und Fotografin Jennifer das Foto des Beatles-Albumcover auf der Abbey Road nachstellen. Bevor diese eintrifft, wird er jedoch von einem Auto angefahren. Jennifer schießt nach ihrer Ankunft trotz der leichten Verletzung Sauls das Foto und trennt sich kurz darauf von ihm. Saul wird das Foto als Gastgeschenk in die DDR mitnehmen, wo er bei Familie Müller unterkommt, um Forschung zum ostdeutschen Kommunismus zu betreiben. In Ostberlin angekommen entspinnt sich mit Walter, dem erwachsenen Sohn der Müllers, auf der Familiendatscha außerhalb Berlins eine Romanze. Auch mit Luna, Walters Schwester, wird Saul ein Wochenende auf der Datscha verbringen. Es wird recht bald klar, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Immer wieder sind Risse in der Matrix eingestreut - kleine Ungereimtheiten, kurze Zukunftsvisionen und unerklärliche, entrückte kleine Gegenstände, Andeutungen oder Verhaltensweisen. Der Grund dafür wird im zweiten Teil des Buchs offenbart, der im Juni 2016, ebenfalls in London auf der Abbey Road beginnt. Jeder weitere Hinweis wäre hier jedoch ein Spoiler, daher sei nur so viel gesagt: Deborah Levy gelingt es, uns auf ganz geschickte Art und Weise im Kopf von Saul Adler viele kleine Bruchstücke der Vergangenheit sammeln zu lassen und damit nach und nach Erkenntnisse über dessen Leben zu gewinnen. Die Erzählstruktur ist wirklich außergewöhnlich und hat mich völlig überrascht und begeistert. Die Autorin schafft es zudem, eine brüchige Realität darzustellen, die sich dem Griff der Leserin meist entzieht. Das Gespenst ist ein immer wieder aufleuchtendes Motiv, das nicht nur in Jennifers Fotografien steckt, sondern auch und vor allem in Erinnerungsfetzen, die Saul heimsuchen. Auch die lauernde Überwachung durch die Stasi wird in Variationen aufgegriffen und trägt zur allgemein fiebertraumartigen Grundstimmung der Geschichte bei: Diffuse Ängste, wirre Anspielungen und eine schwindelnde Durchlässigkeit muss im ersten Teil ausgehalten werden, bis sich die Dinge im zweiten Teil zusammenfügen. Ich finde, dass einen zudem die 80ies-Vibes direkt anspringen und auch für 90ies Kids richtiggehend nostalgisch fühlbar werden. Eine brillante Lektüre, die mit ganz außergewöhnlicher Ästhetik im Kopf hängen bleibt und nach der Auflösung am liebsten gleich nochmals gelesen werden will.

The Man Who Saw Everything: Deborah Levy
The Man Who Saw Everything: Deborah Levyvon Deborah LevyPenguin